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Kolumbien: "Sexuelle Gewalt gehörte zur Logik des bewaffneten Konflikts"

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist in Kolumbien ein strukturelles Problem, ist Linda Cabrera, Direktorin der kolumbianischen Frauenrechtsorganisation Sisma Mujer, überzeugt. Im Fall der vergewaltigten Journalistin Jineth Bedoya hat der Interamerikanische Gerichtshofs für Menschenrechte den kolumbianischen Staat jetzt zu Wiedergutmachung verurteilt - ein Grund zur Hoffnung für die Feministin und Menschenrechtsanwältin. 

Linda Cabrera ist Direktorin der kolumbianischen Frauenrechtsorganisation "Sisma Mujer". Foto: Knut Henkel

Linda Cabrera ist Direktorin der kolumbianischen Frauenrechtsorganisation "Sisma Mujer". Foto: Knut Henkel

Nach offiziellen Zahlen, die die Frauenrechtsorganisation Sisma Mujer ausgewertet hat, wurde in Kolumbien im Jahr 2020 alle 34 Minuten eine Frau Opfer sexueller Gewalt. Jetzt hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte am Montag, 18. Oktober, in einem wegweisenden Urteil sexuelle Gewalt als Instrument des „Zum-Schweigen-Bringens“ definiert. Der kolumbianische Staat wurde zu umfassenden Reparationsleistungen gegenüber der Klägerin Jineth Bedoya verurteilt. 

Blickpunkt Lateinamerika: Welche  Bedeutung hat das Urteil für die Opfer sexueller Gewalt?

Linda Cabrera: Das Urteil ist eine großartige Nachricht für alle Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind - während, aber auch nach dem bewaffneten Konflikt, der Kolumbien seit Mitte der 1960 Jahre prägt. Sexuelle Gewalt gehörte zur Logik des bewaffneten Konflikts und sie gehört auch heute in den Regionen, wo der Konflikt noch nicht beendet ist, zu den bitteren Realitäten. Das Urteil liefert uns Werkzeuge, die uns helfen werden, endlich den Wandel in der Justiz einzuleiten, den dieses Land so dringend braucht. Uns fehlt eine effektive, stringente Antwort der Justiz auf sexuelle Gewalt, die zu den strukturellen Problemen in unserer Gesellschaft zählt. Wir brauchen den uneingeschränkten Zugang zur Justiz für die Opfer von sexueller Gewalt und Garantien für deren grundlegenden Rechte. Es gibt ein historisches Defizit, eine historische Schuld des Staates und der Gesellschaft gegenüber den Opfern – in ihrer großen Mehrheit Frauen. 

Jineth Bedoya ist ein Opfer, hat den Mut und das Durchhaltevermögen aufgebracht, durch alle Instanzen zu klagen. Schließlich landete sie vor der höchsten Rechtsinstanz der Region, dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica, und erhielt endlich Gerechtigkeit. Was zeigt dieses Beispiel?

Es beweist, dass nicht ermittelt wurde und dass das Justizsystem Kolumbiens nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte. Genau deshalb haben die Richterinnen und Richter den kolumbianischen Staat angewiesen, umfassend zu ermitteln. Nun müssen die Auftraggeber und die Verantwortlichen - und nicht nur die Ausführenden - ausfindig gemacht und bestraft werden. Das hat Signalcharakter in Kolumbien.

In Kolumbien werden Gewaltverbrechen gegen Frauen selten geahndet. Und auch im Friedensvertrag mit der Farc-Guerilla wird sexuelle Gewalt gegen Frauen nicht, wie von Frauenorganisationen gefordert, als Kriegsverbrechen aufgeführt. Könnte dieses Urteil zum Meilenstein werden?

Ja, sexuelle Gewalt in Kolumbien wird und wurde nur ausnahmsweise geahndet. Es gibt eine historische Schuld gegenüber den Frauen in Kolumbien. Dieses Urteil könnte daran etwas ändern. Für mich ist dieses Urteil ein Appell sowohl an Kolumbiens Justiz als auch an die Sonderjustiz für den Frieden (JEP), die vielen tausenden Akte von sexueller Gewalt während des bewaffneten Konflikts aufzuklären und zu sanktionieren. Das ist überfällig.

Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs ist sehr hilfreich, weil es den kolumbianischen Staat verurteilt, ein Forschungs- und Erinnerungszentrum zur sexuellen Gewalt einzurichten und zu finanzieren. Das hat einen wichtigen symbolischen Charakter und es macht sexuelle Gewalt sichtbar. Die Situation der Opfer, die Folgen, die Bedeutung der Straflosigkeit – all das wird greifbar und kann dafür sorgen, dass die Gesellschaft sich bewusster wird, was sexuelle Gewalt nach sich zieht. Daran schließt sich für mich auch die Hoffnung auf Prävention an.

Kolumbiens Präsident Iván Duque hat das Urteil akzeptiert und seine Umsetzung zugesagt, aber die Regierung ist auch dafür bekannt, Zusagen und geschlossene Verträge nicht einzuhalten. Besteht dieses Risiko auch in diesem Fall?

Dieses Urteil enthält etliche Bestimmungen, die der kolumbianische Staat erfüllen muss. Es ist rechtsverbindlich und das ist überaus positiv. Nicht nur für uns Frauen ist es ein Hoffnungsschimmer, sondern auch für Journalisten und Journalistinnen wie Jineth Bedoya. Der kolumbianische Staat wird aufgefordert, sie zu schützen, und außerdem zu konkreten Maßnahmen und zur Berichterstattung verpflichtet. 

Gibt es eine Kooperation zwischen Sisma Mujer und Jineth Bedoyas Projekt „No es Tiempo de Callar“ (Es ist nicht an der Zeit zu schweigen)?

Nein, das ist ihr Projekt, es gibt keine Zusammenarbeit. Wir schätzen ihre Arbeit, ihre Standfestigkeit und den Mut und die Kraft, diesen Kampf für Gerechtigkeit mehr als 21 Jahre geführt zu haben und zu einem Meilenstein in der Geschichte der Frauen Kolumbiens gemacht zu haben.

Sexuelle Gewalt hat es, Menschenrechtsorganisationen zufolge, auch von Seiten der Sicherheitskräfte während der Proteste im April, Mai und Juni gegeben. Ist die Aufarbeitung angelaufen, werden Verantwortliche ermittelt, ist sexuelle Gewalt von Seiten der Ordnungskräfte und der Militärs ein Thema der politischen Debatte im Land?

Ja, es hat gezielte Gewalt gegen Frauen gegeben, auch sexuelle Gewalt. Ziel war es, die Frauen abzuschrecken, die in vielen Orten die Proteste getragen haben. Darauf haben mehrere Organisationen hingewiesen, Dokumente und Quellen zusammengestellt und diese der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, die im Juni Kolumbien besuchte, überreicht. Natürlich laufen die Ermittlungen weiter. Auch da sind internationale Experten und Institutionen extrem wichtig. Wir brauchen den Druck von außen, um Verbrechen an Frauen während des bewaffneten Konflikts aufzuklären und zu ahnden und wir brauchen ihn, um sexuelle Gewalt in einer sehr gewalttätigen Gesellschaft endlich zu ächten. 

Adveniat-Kampagne "Frieden jetzt!"
Mit seiner Kampagne "Frieden jetzt!" unterstützt Adveniat die Versöhnungsarbeit der kolumbianischen Kirche. Über die gesellschaftlichen Gräben hinweg werden friedliche Konfliktlösungsstragien vor Ort entwickelt und eingeübt.

Interview: Knut Henkel

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