Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.
Kolumbien |

Was macht eigentlich die "Sonderjustiz" in Kolumbien?

In den letzten Wochen geriet die Sonderjustiz in Kolumbien nach Anklagen gegen die FARC-Guerilla und staatliche Militärs wieder in den Fokus des medialen Interesses. Im Gespräch mit Blickpunkt Lateinamerika erklärt die in Bogota tätige Juristin Dr. Marie-Christine Fuchs die Aufgaben der Sonderjustiz.

Die Juristin Dr. Marie-Christine Fuchs arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Bogotá, Kolumbien, als Direktorin des Rechtsstaatsprogramms Lateinamerika. Foto: privat

Die Juristin Dr. Marie-Christine Fuchs leitet bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bogotá, Kolumbien, das Rechtsstaatsprogramm Lateinamerika. Foto: privat

Blickpunkt Lateinamerika: Frau Fuchs, was genau ist die „Sonderjustiz“ in Kolumbien?

Dr. Marie-Christine Fuchs: Die kolumbianische Sonderjustiz oder Sondergerichtsbarkeit für den Frieden - Justicia Especial para la Paz (JEP) - wurde im Rahmen des 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerillagruppe FARC-EP geschlossenen Friedensabkommens gegründet und ist seit März 2018 aktiv. Die JEP ist das Justizorgan des auf den Frieden abzielenden, ganzheitlichen kolumbianischen Systems der Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachen und Nicht-Wiederholung, dem unter anderem auch eine Wahrheitskommission angehört. Typisch für Mechanismen der Übergangsjustiz werden durch die Sonderjustiz Kompromisse auf Ebene der materiellen Gerechtigkeit eingegangen, um langfristig zu einem dauerhaften Frieden und zur Versöhnung des kolumbianischen Volkes zu gelangen.

Der Aufbau der JEP ist recht komplex. Neben der eigentlichen Gerichtsbarkeit verfügt sie über ihre eigene Staatsanwaltschaft sowie einen internen Justizverwaltungsapparat. Bevor es vor das eigentliche Friedensgericht geht, was wiederum über mehrere Instanzen verfügt, hat die JEP drei Eingangskammern. Eine entscheidet über mögliche Amnestien und Begnadigungen. Eine andere bestimmt, ob die JEP überhaupt zuständig ist. Da die JEP nicht alle während des Konflikts begangenen Straftaten aburteilen kann – das ist schlichtweg unmöglich, denn es wären viel zu viele – entscheidet eine auch darüber, welche Art von Straftaten zu priorisieren sind. Die Arbeit der Sonderjustiz ist derzeit auf 15 Jahre beschränkt, mit einmaliger Verlängerungsoption um 5 Jahre.

Was ist konkret deren Aufgabe und wie ermittelt die Sonderjustiz?

Die JEP hat die ausschließliche Kompetenz zur strafrechtlichen Untersuchung, Aufarbeitung und Aburteilung aller seit den 60er Jahren bis zum 1. Dezember 2016 begangenen Straftaten, die aus Anlass oder im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien begangen wurden. Das Hauptaugenmerk der Sonderjustiz liegt dabei auf allen Einzel- oder Kollektivstraftaten, die als schwere Menschenrechtsverletzungen (zum Beispiel Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gemäß dem Römischen Statut oder Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht gemäß den Genfer Konventionen) einzustufen sind. Liegen keine schweren Menschenrechtsverletzungen vor, könnten die Täter von einer Amnestie profitieren. Das Verfahren unterscheidet sich danach, ob die Täter sich bei der Sonderjustiz freiwillig gemeldet haben, geständig sind und zur vollständigen Aufklärung der Wahrheit beitragen oder nicht. 

Wer sind die handelnden Personen? Sind es ausschließlich Juristen?

Die in der Sonderjustiz handelnden Personen sind vorwiegend Juristen. Innerhalb des Friedensgerichts gibt es insgesamt 20 Richter und 4 internationale amicus curiae (unter anderem Kai Ambos aus Göttingen) sowie 18 Richter in den drei Justizkammern. Jeder Richter der JEP verfügt über einen Stab von Hilfsrichtern und weiterem juristischen als auch verwaltungstechnischen Personal. In der Informationsanalysierungseinheit GRAI wirken unter anderem neben Politologen, Soziologen und Betriebswirten auch Historiker, Anthropologen oder Ingenieure mit. Interessant ist, dass das gesamte Personal der JEP fast ausschließlich von der internationalen Kooperation finanziert wird, obwohl es sich um ein kolumbianisches Gericht handelt.

Wer kann sich an die Sonderjustiz wenden? 

Vor der JEP können vor allen Dingen folgende Personen abgeurteilt werden beziehungsweise von den vorgesehenen Straferleichterungen profitieren: Mitglieder von bewaffneten Guerillagruppen, die den Friedensvertrag unterschrieben haben, allen voran die FARC-EP, aber nicht Mitglieder von Kolumbiens zweitgrößter Guerillagruppe ELN. Die haben den Friedensvertrag nicht unterschrieben. Dritte (zum Beispiel Unternehmen), die direkt oder indirekt am bewaffneten Konflikt beteiligt waren, die dabei aber keiner bewaffneten Gruppe angehören und sich freiwillig der JEP unterwerfen. Damit sind Mitglieder der Paramilitärs von der Sonderjustiz ausgeschlossen. Für sie gelten eigene, bereits im Jahre 2005 geschaffene Mechanismen der Übergangsjustiz. Mitglieder der staatlichen Streitkräfte, die direkt oder indirekt strafbare Handlungen während und aufgrund oder aus Anlass des bewaffneten Konflikts begangen haben.

An die JEP können sich alle Opfer des Bürgerkriegs wenden, um dort zum Beispiel Beweise beizusteuern und um sich gerichtlich registrieren und vertreten zu lassen. Dazu werden unter anderem in öffentlichen Audienzen Opfer oder ganze Opfergruppen angehört. Die JEP ist jedoch nicht für die materielle Entschädigung der Opfer zuständig. Sie entschädigt immateriell durch die Aufklärung begangener Straftaten und die Aburteilung der Täter. Dabei sollen alle Strafen der JEP restaurativen und versöhnenden Charakter haben. Die gestehenden Täter können zum Beispiel zur Sozialarbeit oder Reparaturarbeiten an beschädigter Infrastruktur verurteilt werden.

Welche Strafen/Urteile kann die Sonderjustiz verhängen/fällen?

Je nach Grad der Mitwirkung der Täter bei der Strafaufklärung sind drei verschiedene Arten von Strafen möglich. Sofern der schuldig gesprochene Straftäter seine Schuld von Anfang an anerkannt hat und während des gesamten Verfahrens bei der Aufdeckung der Straftat mitgewirkt hat, darf er mit einer niedrigen Freiheitsstrafe bis zu maximal acht Jahren ohne Gefängnis rechnen. Selbst wenn der Straftäter seine Schuld während des ganzen Verfahrens nicht anerkannt hat, ist die Freiheitsstrafe nur zwischen 15 und maximal 20 Jahren. Der größte Anreiz der Täter, von der Sonderjustiz abgeurteilt zu werden, sind somit die im Vergleich zu der ordentlichen kolumbianischen Strafgerichtsbarkeit niedrigen Strafen sowie die Möglichkeit der Amnestie. Die Höchststrafe in der ordentlichen Strafjustiz beträgt nämlich 60 Jahre.

Dr. Marie-Christin Fuchs ist die Leiterin des Rechtsstaatsprogramms der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bogotá und Mitherausgeberin des lateinamerikanischen Rechtsstaatsblogs @A_EstadoDerecho und des Observatoriums der JEP @ObservaJEP.

Twitter: twitter.com/MarieChFuchs
Twitter: twitter.com/A_EstadoDerecho
Twitter: twitter.com/ObservaJEP

Interview: Tobias Käufer

Weitere Nachrichten zu: Politik, Soziales

Cookie Einstellungen

Erforderliche Cookies sind für den reibungslosen Betrieb der Website zuständig, indem sie Kernfunktionalitäten ermöglichen, ohne die unsere Website nicht richtig funktioniert. Diese Cookies können nur über Ihre Browser-Einstellungen deaktiviert werden.

Anbieter:

Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.

Datenschutz

Marketing-Cookies werden verwendet, um Besuchern auf Webseiten zu folgen. Die Absicht ist, Anzeigen zu zeigen, die relevant und ansprechend für den einzelnen Benutzer sind und daher wertvoller für Publisher und werbetreibende Drittparteien sind.

Anbieter:

Google Ireland Limited

Datenschutz

Statistik-Cookies dienen der Analyse und helfen uns dabei zu verstehen, wie Besucher mit unserer Website interagieren, indem Informationen anonymisiert gesammelt werden. Auf Basis dieser Informationen können wir unsere Website für Sie weiter verbessern und optimieren.

Anbieter:

Google Ireland Limited

Datenschutz