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Mexiko: "Über humanitäre Interventionen nachdenken"

Ungefähr 200 kriminelle Gruppen sind in Mexiko aktiv und sorgen für einen Flickenteppich blutiger Konflikte. Falko Ernst, Mexiko-Analyst vom Thinktank "International Crisis Group" sieht Deutschland und die EU in der Pflicht, Frieden fördernde Maßnahmen aktiv zu unterstützen.

In einigen Gemeinden in Michoacán fühlen sich die Menschen im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen allein gelassen und haben eigene Bürgerwehren gegründet. Foto (2016): Adveniat/Tobias Käufer

In einigen Gemeinden in Michoacán, Mexiko, fühlen sich die Menschen im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen allein gelassen und haben eigene Bürgerwehren gegründet. Foto (2016): Adveniat/Tobias Käufer

Frage: Herr Ernst, die Auseinandersetzungen unter den mexikanischen Kartellen nehmen in der jüngsten Zeit massiv an Zahl und Brutalität zu. Immer mehr Bundesstaaten sind betroffen. Immer mehr Gruppen tauchen auf. Es ist sogar für das Gewalt gewohnte Mexiko extrem. Was ist da gerade los? 
 
Falko Ernst: Wir sehen eine fortgesetzte Mutation des Konflikts. Verschiedene Regierungen haben es versäumt, integrale Lösungen, wie etwa legale wirtschaftliche Alternativen, Aussteigerprogramme oder langfristige Strafverfolgungsstrategien, zu implementieren. Den kriminellen Gruppen werden zwar immer wieder sporadische Schläge versetzt, aber das sind nur oberflächliche Maßnahmen, die am Grundproblem nichts ändern: der Filz zwischen Organisierter Kriminalität und Staat.

"Filz zwischen Organisierter Kriminalität und Staat"

Die Grenzen sind hier besonders in Hochkonfliktgebieten oftmals nicht mehr auszumachen. Im Endeffekt führt dies zu einem grundsätzlichen Fehlen institutioneller Werkzeuge. Das hat den bewaffneten Gruppen ermöglicht, sich tief in den lokalen Wirtschafts-, Politik- und Gesellschaftssystemen festzusetzen und ihre Macht auszubauen. Gleichzeitig haben sich diese Gruppen atomisiert. Kein einzelner Akteur schafft es, eine Art Hegemonie aufzubauen, die befriedend wirken könnte. Die Folge sind latente Kleinkriege.         
 
Die Politik des Präsidenten López Obrador unter dem Schlagwort ‚Umarmung statt Kugeln' wirkt fahrlässig angesichts dieses Panoramas. Wie viel Schuld treffen ihn und seine Politik an der gegenwärtigen Entwicklung?
 
Einerseits hat López Obrador eine Situation geerbt, die ohne die systemische Vetternwirtschaft und Versäumnisse seiner Vorgänger nie entstanden wäre. Andererseits tragen er und seine Regierung natürlich die Verantwortung dafür, dass sich die Lage weiter verschärft. Es fehlt eine wohl definierte, langfristig angelegte Strategie. Und die Leitlinie, dass Feuer nunmehr nicht mehr mit Feuer bekämpft wird, sendet die Botschaft an die bewaffneten Gruppen, dass man den Rahmen des Möglichen noch weiter austesten kann.

Konflikt als Normalität

Nachdem Vorgängerregierungen zu sehr auf militärische Macht gesetzt haben, ist das in gewisser Weise verständlich. Die Resultate des ‚Drogenkrieges‘ sind in jeglicher Weise desaströs gewesen. Aber das Fehlen eines Gegenentwurfes wird dort brutal deutlich, wo die Menschen vom Staat entweder ignoriert oder vertröstet werden und Vertreibungen und anderen Aggressionen ausgesetzt sind. Manchmal tritt der Staat auch selbst als Aggressor auf. So schwelt der Konflikt weiter vor sich hin und wird mehr und mehr zur tagtäglichen Normalität.         

Mexiko wirkt so doch zunehmend wie ein gekaperter Staat….
 
Ich würde dem nicht pauschal zustimmen, da der mexikanische Staat höchst divers ist und es etliche Institutionen und Funktionäre gibt, die ihre Arbeit im Sinne des Gemeinwohls verrichten. Allerdings sieht man gerade bei Polizei, Militär und den Staatsanwaltschaften eine gefährliche Unterwanderung. Diese Institutionen werden zur Bereicherung von Kommandeuren und Politikern verwendet oder zur Unterstützung krimineller Gruppen. Dabei bleiben die Bürger schutzlos.
 
Gibt es überhaupt eine Strategie, um diese Probleme zu lösen? 
 
Angesichts der Tiefe und Breite des Problems kann es keine einfache Lösung geben. Aber alles steht und fällt damit, ob man Staat und Kriminalität auseinanderdividieren kann. Der erste Schritt zur Korruptionsbekämpfung wäre, radikal für Transparenz zu sorgen - etwa innerhalb des Militärs. Dafür müssten entsprechende Stellen eingerichtet werden, die den Staat nach und nach von innen aufräumen.

Humanitäre Interventionen

Außerdem gibt es in Mexiko nicht den einen, großen Konflikt, sondern eine Art Flickenteppich an lokal spezifischen Konflikten. Jeder hat verschiedene Treiber, Akteure und Muster der Komplizenschaft. Um diese effektiv anzugehen, benötigt man lokal angepasste Aktionspläne. In einigen Gebieten wäre es mittlerweile höchste Zeit, über humanitäre Interventionen nachzudenken. Zudem muss den abertausenden jungen Kämpfern, die jeden Tag als Kanonenfutter enden, ein Ausweg geboten werden. Das sollten auch die EU und Deutschland tatkräftig unterstützen.             
 
Welche Rolle spielen die USA in diesem Panorama, und was könnten sie zur Lösung beitragen?
 
Die Situation in Mexiko ist nicht ohne die USA als größter Konsument illegaler Drogen weltweit und Hauptquelle der Waffen in Mexiko zu verstehen. Der Trugschluss, dass man dem Rauschgift und der Organisierten Kriminalität mit militärischer Gewalt den Garaus machen kann, steckt dort noch tief in den Köpfen der Politik und der Sicherheitsorgane. Ein Umdenken wird noch Zeit brauchen. Aber es ist schon deshalb auch im US-Interesse, da der Konflikt unter anderem zu einem Anstieg von Flüchtlingen aus Mexiko führt.
 
Die Kartelle haben ihre illegalen Geschäfte längst diversifiziert. Ist Rauschgift noch immer das wichtigste Business?   
 
Der illegale Drogenhandel ist weiterhin eine der größten Einnahmequellen der Organisierten Kriminalität in Mexiko und damit auch eine der Triebkräfte der Korruption. Synthetische Drogen bescheren aber noch größere Profitmargen, besonders Fentanyl und Methamphetamine sind auf dem Vormarsch. Der Vorteil liegt hier darin, dass man nichts mehr anbauen muss, was die Produktion wesentlich billiger und auch von natürlichen Faktoren unabhängig macht.

Drogen und Schutzgelderpressung

Kokain, Heroin und Marihuana spielen aber auch weiterhin eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus ist die großangelegte Schutzgelderpressung in legalen Märkten wie dem für Avocados, Eisenerz und Gold höchst lukrativ. Wird eine Quelle abgedreht, kann man immer andere anzapfen – jedenfalls solange der Staat im kriminellen Sinne biegsam bleibt.   
 
Wie viele Gruppen der Organisierten Kriminalität gibt es inzwischen in Mexiko?
 
Da es an verlässlichen Informationen auf lokaler Ebene und an methodologischen Kriterien fehlt, bleibt es bei Annäherungen. Unseren eigenen Schätzungen zufolge operieren momentan ungefähr 200 illegale bewaffnete Gruppen im Land. Die Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren etwa verdoppelt. 
 
Hauptakteure aber bleiben das „Kartell Jalisco Neue Generation“ (CJNG) und das „Sinaloa-Kartell“?
 
Das Sinaloa-Kartell ist das letzte verbliebene Aushängeschild der alten Generation der mexikanischen Organisierten Kriminalität. Es ist relativ hierarchisch strukturiert, hauptsächlich auf illegale Drogen fokussiert und um gute Beziehungen zu Regierungen bemüht. Im Vergleich hierzu ist das CJNG mit seinem weitverzweigten Franchisesystem wesentlich dezentraler organisiert, flexibler, aber auch verwundbarer, da die Kerngruppe um den Anführer teils nur schwache Verbindungen mit der ‚Peripherie‘ unterhält. So ein Konstrukt kann leichter in sich zusammenbrechen, wenn es unter Druck gesetzt wird. Anders als das Sinaloa-Kartell setzt Jalisco stärker auf Schutzgelderpressung und Benzindiebstahl. Zudem geht das Kartell gegenüber dem Staat weit weniger diplomatisch vor, wie man beim Abschuss von Militärhelikoptern oder öffentlichkeitswirksam inszenierten Attentaten sehen konnte. 

Interview: Klaus Ehringfeld, Mexiko

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