Lateinamerikas Corona-Kurve flacht ab
Die gute Nachricht zuerst: In Lateinamerika gehen die Corona-Infektionen zurück. Die schlechte Nachricht: Wissenschaftler rechnen mit einer zweiten Welle und warnen vor erneuter Verharmlosung.
Es sind Zahlen, die in Lateinamerika wie Seelenbalsam wirken: In der von Corona erschütterten Region gehen die COVID-19-Zahlen zurück. Nach Angaben der Plattform "worldometers" und der Johns-Hopkins-Universität sinken die Infektionszahlen in der Region oder haben sich zumindest verlangsamt.
In Brasilien liegt der Höhepunkt der Infektionen mittlerweile drei Monate zurück: Am 29. Juli infizierten sich dort fast 71.000 Menschen mit COVID-19, am 2. November lag die Zahl der täglichen Infektionen bei 8.500 Fällen. In Peru, einem der am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Länder, flachte die Kurve von mehr als 10.000 Fällen am 16. August auf 2.357 Infektionen am 3. November ab.
Sieben Monate Lockdown
In Argentinien, dem Land mit einem sieben Monate langen Lockdown und damit dem längsten in ganz Südamerika, lagen die Zahlen lange im marginalen Bereich. Erst ab August explodierten die Infektionen. Bisheriger Höhepunkt war der 21. Oktober mit 18.326 Fällen. Am 2. November waren es noch rund 9.600.
"Durch die Quarantäne haben wir den Höhepunkt der Epidemie hinausgezögert, eine Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems vermieden und die Sterberate gering gehalten", bilanziert Luis Cámara von der Argentinischen Gesellschaft für Medizin.
Cámara berät Argentiniens Präsident Alberto Fernández im Umgang mit der Pandemie. Gegenüber dem argentinischen Sender "Radio Perfil" räumte er ein, dass nicht alles so gelaufen sei, "wie wir es uns vorgestellt haben". "Wir haben die Infektionswelle nicht stoppen, sondern nur herauszögern können", gab er zu. Die Herausforderung sei, künftig mit dem Virus zu leben.
Höhepunkt überstanden, und dann?
Fest steht, dass trotz des unterschiedlichen Umgangs mit dem Virus die Ausbreitung in der Region insgesamt zunächst zugenommen hat, wenn auch zeitlich versetzt. Erst im Oktober schwächte sich die Infektionskurve deutlich ab.
In der spanischen Tageszeitung "El País" versucht sich der Soziologe Jorge Galindo an einer Erklärung: "In Lateinamerika ging es stets darum, den Höhepunkt der Pandemie zu überstehen." Mittlerweile sei allerdings klar, dass es einen solchen einmaligen Höhepunkt gar nicht gebe, sondern die Pandemie in Wellenbewegungen verlaufe.
Außerdem sei ein lang anhaltender Lockdown auch schwierig mit den für Lateinamerika charakteristischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vereinbar. Dazu gehören unter anderem der hohe Anteil des informellen Sektors und die beengten Wohnverhältnisse in Armenvierteln, die einen Großteil der Bevölkerung dazu zwingen, das Haus zu verlassen.
Rezession und Armut
Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, Cepal, führt die durch Corona ausgelöste Rezession zu noch mehr Armut und Arbeitslosigkeit. Im Durchschnitt werde die Wirtschaft in der Region um rund acht Prozent schrumpfen, mehr als 45 Millionen Menschen würden erneut unter die Armutsgrenze abrutschen.
Nur für Brasilien gab der Internationale Weltwährungsfonds eine etwas "optimistischere" Prognose ab: Dort werde "nur" mit einem Rückgang von 5,8 Prozent des Wirtschaftswachstums gerechnet. Das Land mit mehr als fünf Millionen COVID-19-Infektionen versucht, mit einem staatlichen Hilfsprogramm die Wirtschaft anzukurbeln.
Angst vor der zweiten Welle
Der brasilianische Arzt und Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis befürchtet, dass nach einem kurzen Abflachen der Kurve eine zweite Welle über Brasilien hereinbrechen könnte. Nach Informationen des brasilianischen Forschungsinstituts für öffentliche Gesundheit "Fiocruz" hätten die Krankenhausaufenthalte aufgrund von Atemnot im Oktober bereits in zehn brasilianischen Landeshauptstädten wieder zugenommen.
Nicolelis, der dem wissenschaftlichen Komitee zur Bekämpfung des Coronavirus im Nordosten des Landes angehört, appellierte in einem Meinungsbeitrag für die Zeitung "El País" an die Regierung in Brasilia und die Gouverneure der Bundesstaaten, die Vorsichtsmaßnahmen zu verstärken.
"Wer nach Brasilien aus Europa oder den USA einreist, muss einen negativen COVID-19-Test vorweisen oder am Flughafen getestet werden", fordert er. Nicht ohne Grund: Das Virus war im Februar dieses Jahres von brasilianischen Touristen bei der Rückkehr aus ihrem Italienurlaub ins Land gebracht worden.
Die brasilianischen Flughäfen blieben damals allerdings noch bis Ende März offen. "Wir dürfen diesen krassen Fehler nicht wiederholen", warnt Nicolelis. Die mangelnde Vorbereitung und die Unterschätzung der Pandemie seien fatal gewesen: "Sie haben zur größten menschlichen Tragödie in der Geschichte des Landes mit 160.000 Toten in acht Monaten geführt."