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Chile |

Interview: "Diese Verfassung katapultiert Chile ins 21. Jahrhundert"

Am Sonntag entscheidet die chilenische Bevölkerung über den Entwurf für eine neue Verfassung. Elisa Loncón, die ehemalige Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung, erklärt im Interview, warum dieser Entwurf Zustimmung verdient.

Pressekonferenz mit Vertretern der Verfassungsgebenden Versammlung am 6. Oktober 2021 in Santiago de Chile. Am Mikrofon steht Elisa Loncón, die Präsidentin der "Constituyente" in Mapuche-Tracht. Foto: Convención ConstitucionalMediabanco AgenciaCC BY 4.0

Am jetzigen Sonntag, 4. September 2022, findet in Chile eine der wichtigsten Abstimmungen der letzten Jahrzehnte statt. So zumindest sehen es Experten. Dann entscheidet die Bevölkerung über den Entwurf für eine neue Verfassung für das südamerikanische Land. Mehr als ein Jahr haben 154 Männer und Frauen, in ihrer überwiegenden Zahl keine Berufspolitiker, den Text zusammengeschrieben. Er würde das südamerikanische Land von einem neoliberalen Disneyland in einen sozialen Rechtsstaat verwandeln.

Die Verfassung ist stark feministisch inspiriert und nimmt die globale Klimakrise ernst. Die Natur wird erstmals zum Rechtssubjekt. Was da zur Abstimmung steht, ist derzeit eines der spannendsten Projekte der modernen Demokratie und hat Wirkung über Chile hinaus. Experten und Juristen nennen die Verfassung avantgardistisch, postmodern, auf der Höhe der Zeit oder träumerisch, hyperaktivistisch und linksradikal. Je nach politischem Standort. Von allem hat sie etwas. Sollte sie am Sonntag angenommen werden, stellt sie das bisherige chilenische Modell auf den Kopf. Allerdings sehen die Umfragen eine Ablehnung des Entwurfs voraus.

Interview

Elisa Loncón (59), saß der Verfassunggebenden Versammlung vor. Die Angehörige des indigenen Mapuche-Volks ist Feministin und Hochschullehrerin. Studiert hat sie Literaturwissenschaft in Chile, Kanada und den Niederlanden.

Blickpunkt Lateinamerika:Frau Loncón, warum scheint eine Mehrheit der Chilenen am Sonntag die Verfassung ablehnen zu wollen? Ist das Projekt gefährdet?

Elisa Loncón: Nein, ich glaube nicht, dass es in Gefahr ist. Ich gehe davon aus, dass der Vorschlag angenommen wird. Die Chilenen und Chileninnen sind sich bewusst, um was es geht. Um das Ende der Pinochet-Diktatur und die Verteidigung der Errungenschaften und Forderungen des sozialen Aufstands von 2019. 
 
Wie erklären Sie sich dann die Umfragewerte, die der Option „Ablehnung“ eine breite Mehrheit zugestehen?

Nun ja, wir haben von Anbeginn an unter einer Art journalistischer Belagerung gelitten. Das große Duopol der chilenischen Medien hat dafür gesorgt, dass wir kaum Platz hatten, um die Errungenschaften des neuen Grundgesetzes bekannt zu machen. Zudem hat es selbst in den TV-Spots für die Option „Ablehnung“ Lügen gegeben und es sind Unwahrheiten verbreitet worden. Etwa, dass die neue Verfassung die Abtreibung unbegrenzt erlaubt oder dass Privateigentum abgeschafft werde. Dagegen anzukommen, ist und war schwer. 
 
Was sind denn die großen Errungenschaften des Verfassungsentwurfs? 
 
Das neue Grundgesetz katapultiert Chile ins 21. Jahrhundert und lässt endlich die Verfassung der Diktatur zurück. Und sie nimmt die Wünsche der Menschen auf, die bei den Protesten vor drei Jahren massiv formuliert wurden. Außerdem ist das eine Verfassung, die demokratisch und vor allem paritätisch sowie fernab der politischen Elite geschrieben wurde. Das ist für sich genommen schon ein Meilenstein. Es werden zudem endlich die sozialen und grundlegenden Rechte der Menschen anerkannt: das Recht auf Bildung, Gesundheit und Wohnung. Ein großer Teil der Chileninnen und Chilenen wird damit endlich aus der Marginalität geholt. Zudem werden die Natur als Rechtssubjekt anerkannt und die Plurinationalität des Staates festgeschrieben, die totale Parität in allen Staatsämtern implementiert und sogar plebiszitäre Elemente einer direkten Demokratie eingeschrieben. 
 
Besonders beim Thema der Indigenenrechte beträte die Verfassung Neuland. Taugt der Entwurf dazu, die langanhaltende Krise mit den Mapuche-Ureinwohnern zu lösen?
 
Der Text weist den Weg zu einer nachhaltigen und stabilen Lösung des Konflikts, indem den indigenen Völkern erstmals ihre kulturellen, mystischen, kollektiven und sprachlichen Rechte anerkannt werden, ebenso wie das Recht auf ihre Territorien. So ist die neue Verfassung eine Grundlage, auf der die indigenen Völker und der Staat künftig ihre Zusammenarbeit beginnen können. Allerdings muss man dabei bedenken, dass es innerhalb des Mapuche-Volkes viele verschiedene Strömungen gibt, und nicht alle wollen etwas mit dem Staat zu tun haben. Die Radikalsten unter ihnen lehnen den Staat kategorisch ab. Aber unzweifelhaft legt dieser Entwurf die minimale Grundlage für eine Lösung. Aber auch die Mapuche müssen sich öffnen. Es gibt innerhalb der Führung extrem patriarchalische Strukturen, die gegen Frauenrechte sind.
 
Was passiert, wenn die Verfassung am Sonntag abgelehnt wird? 

Das wäre ein schwerer Rückschlag. Denn sie ist die Antwort auf eine große soziale Krise, die im Jahr 2019 ihren Höhepunkt fand. Und die Ursachen für die Krise und ihre Auslöser sind noch immer gültig und vorhanden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass bei einer Ablehnung früher oder später die Proteste erneut beginnen. Auf der anderen Seite gibt es jetzt aber kein Zurück mehr. Vor allem die chilenischen Frauen werden nach so vielen Jahren harter Kämpfe bei der Gleichberechtigung nicht mehr zurückstecken. Gleiches gilt für die Plurinationalität. Die politische Rechte behauptet jetzt zwar, dass sie auch eine neue, aber andere Verfassung will, aber sie reden dabei nur von den sozialen Rechten. Frauen und Ureinwohner kommen in ihrem Veränderungsdiskurs nicht vor. Aber man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Diese Verfassung setzt Standards bei den Fragen der Gleichberechtigung. Dahinter gehen wir nicht zurück. 

Interview: Klaus Ehringfeld, Chile

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