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Chile |

Enttäuschte Hoffnungen

Von einer ungewöhnlichen Präsidentschaft in stürmischen Zeiten: Das erste Amtsjahr von Gabriel Boric in Chile war voller Rückschläge. Und die Zeichen stehen weiter auf Sturm.

Gabriel Boric kurz vor seiner ersten Rede als chilenischer Präsident am 11. März 2022. Foto: Vocería de GobiernoCC BY-SA 2.0

Pünktlich zum ersten Jahrestag seiner Amtszeit machte das Parlament dem chilenischen Präsidenten ein unwillkommenes Geschenk. Die Abgeordnetenkammer in Valparaiso ließ vergangene Woche die Steuerreform von Gabriel Boric durchfallen, ein Herzensprojekt der neuen linken Regierung, die am 11. März vor einem Jahr unter großem Beifall im Land und gespannter Erwartung in aller Welt ihr Amt antrat. Mit den Zusatzeinnahmen in Höhe von zehn Milliarden Dollar wollte Boric seine wichtigen Projekte im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich sowie den ökologischen Umbau finanzieren.  
 
Die unerwartete Ablehnung, die der junge Linkspräsident verärgert quittierte, war der passende Abschluss eines sehr unruhigen und komplizierten ersten Amtsjahres für den „woken“ Staatschef und seine umweltsensible und frauenbewegte Regierung. In den Turbulenzen gingen Errungenschaften wie die kostenlose öffentliche Gesundheitsversorgung für 5,3 Millionen Chileninnen und Chilenen, die Erhöhung des Mindestlohns und eine Stabilisierung der Wirtschaft fast unter. 

Richtungswechsel und geerbte Probleme
 
Fehler und Rückschläge dominieren die öffentliche Wahrnehmung - allen voran die klare Ablehnung der neuen Verfassung im September. Bei dem Referendum stimmten 62 Prozent der Bevölkerung gegen das Projekt eines neuen Grundgesetzes, das Chile bei der Frage von Geschlechterparität und Umwelt- sowie Naturschutz auf eine weltweit einmalige Grundlage gestellt hätte. Auch hätte sie Elemente einer direkten Demokratie festgeschrieben, die der Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden entgegenwirken sollte. 
 
In Teilen ist aber das ambitionierte und mutige Projekt des 37-Jährigen in seinem ersten von vier Regierungsjahren auch an ererbten Problemen und den Notwendigkeiten der Realpolitik gescheitert, so etwa bei dem Thema der Einwanderung, der Inflation und Zunahme der Kriminalität im Land. Beim Thema Migration und Umgang mit den Mapuche-Ureinwohnern musste Boric faktisch einen kompletten Richtungswechsel vornehmen. Erst vor wenigen Tagen verfügte er die Militarisierung der Nordgrenze zu Bolivien, über die jeden Tag bis zu 500 Migrantinnen und Migranten ohne Papiere strömen. 
 
Letztlich ist der Anstieg der Kriminalität vor allem in der Hauptstadt Santiago und im Norden des südamerikanischen Landes ohne Beispiel für Chile. Das kleine südamerikanische Land war immer eine Ausnahme in Lateinamerika und galt als weitgehend sicher. Leider sind nach Aussagen auch von Anwälten in der Mehrzahl Zuwanderer für die Gewaltdelikte verantwortlich. Die Bevölkerung kreidet diese Verschlechterung der Sicherheitslage der Regierung an.  

Unerfülltes Versprechen
 
Die hohen Erwartungen an die neue Regierung wurden auch ein Stück weit durch die wiederholten Fehler und mangelnde politische Erfahrung ihrer 14 Ministerinnen und zehn Minister enttäuscht. Viele von ihnen gehörten zu Boric‘ Mitstreitern, als er 2011 als Studentenführer im Kampf für eine gerechte Bildungspolitik landesweit Bekanntheit erlangte. Viele Mitglieder seines ersten Kabinetts waren nicht nur Freunde und jung, sondern eher Aktivisten als Politiker und Politikerinnen. Da waren Anfängerfehler gewissermaßen eingepreist. 
 
„Boric‘ Führungsstil war von Anfang an von einem Mangel an Koordination und einer genauen Prioritätenliste gekennzeichnet“, kritisiert Octavio Avendaño, Politologe an der Universidad de Chile. Schon wenige Tage nach der Amtsübernahme seien die Führungs- und Managementprobleme sowie die mangelnde Erfahrung mehrerer seiner Minister deutlich geworden. Handwerkliche Fehler und Fehleinschätzungen wie beim Entwurf für eine neue Verfassung oder manch unglückliche Aussage von Ministerinnen taten ihr übrigens. Und so ist für den Großteil der Bevölkerung die neue linke Regierung nach einem Jahr ein unerfülltes Versprechen geblieben. Die Zustimmung für Boric liegt laut dem Meinungsforschungsinstitut Cadem bei 35 Prozent. Immerhin ein Plus von zehn Prozentpunkten gegenüber dem Januar.

Es bleibt kompliziert
 
Diese Ergebnisse zeigen aber auch, dass seine Basis und die Unterstützung für sein Programm schwächer waren, als es das triumphale Wahlergebnis der zweiten Runde mit 58 Prozent vermuten ließ - und dass sich die Regierung dessen nicht schnell genug bewusst geworden ist. Auch deshalb musste der Präsident in nur einem Jahr bei zwei Kabinettsumbildungen Jugend, Aktivismus und Enthusiasmus durch Alter, Erfahrung und Routine ersetzen.
 
„Der Präsident und seine Partei Frente Amplio sind in dem Dilemma gefangen, gleichzeitig revolutionär und subversiv sein zu wollen, aber vor allem institutionell und offiziell sein zu müssen", sagt María José Naudon von der Universität Adolfo Ibañez. Mit einer zweiten Umbildung gerade jetzt zum Jahrestag hat Boric sein Kabinett nochmal deutlich erfahrener gestaltet. Mittlerweile wirkt der Präsident wie ein Jungspund im Kreise seiner Ministerinnen und Minister, die durchschnittlich um die 50 Jahre alt sind. Manche sind schon älter als 70 Jahre, so wie der neue Außenminister Alberto van Klaveren. Er diente schon der früheren sozialdemokratischen Präsidentin Michelle Bachelet als Vizeminister. „Jetzt ist die Regierung noch mal deutlich ins Zentrum gerückt“, sagt Politologin Naudon.
 
Auch wenn die Wirtschaftszahlen Besserung versprechen, bleibt das Panorama für die restlichen drei Regierungsjahre kompliziert. Zumal Boric und sein Kabinett von den rechten Parteien, den Medien und den in Chile traditionell starken Großunternehmen keine Unterstützung erhoffen können. Zunächst aber startet die Regierung einen neuen Anlauf für eine neue Verfassung. Am 7. Mai müssen die Bürger die 50 Mitglieder eines Verfassungsrats bestimmen, der in nur fünf Monaten eine neue Magna Carta entwerfen soll. Es ist Chiles zweiter Versuch innerhalb von vier Jahren, endlich das Grundgesetz aus Zeiten der Pinochet-Diktatur loszuwerden. Dem schmalen und langen Land am Ende des amerikanischen Kontinents stehen weitere unruhige Monate bevor. 

Autor: Klaus Ehringfeld

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