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Bolivien: "Die Interimsregierung dreht die Uhr zurück"

Freddy Mamani Silvestres hat als Architekt indigene Kultur im Stadtbild von El Alto sichtbar gemacht. Sein charakteristischer Baustil ist von der Aymara-Kultur beeinflusst und integriert typische indigene Muster auf Fassaden und Veranstaltungsflächen. Der 48-Jährige steht für den indigenen Aufbruch, den Bolivien in den letzten zwei Dekaden erlebte und den er jetzt gefährdet sieht. 

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Vom indigenen Architekten Freddy Mamani gestaltete Hausfassaden in El Alto, Bolivien. Foto: Knut Henkel

In Bolivien stehen am 18. Oktober die Präsidentschaftswahlen an. Nach der mehrfachen Verschiebung der Wahlen soll nun nach fast einem Jahr die Interimsregierung von Jeanine Áñez abgelöst werden. Wie wichtig sind diese Wahlen?

Überaus wichtig, denn die Interimsregierung hat nie die Mehrheit der Bevölkerung vertreten. Sie hat nach dem Rücktritt von Evo Morales im November 2019 die Regierung übernommen. Sie hatte den Auftrag, geregelte Wahlen binnen drei Monaten durchzuführen. Doch das hat sie nicht getan. Sie hat grundlegende politische Entscheidungen getroffen und die Wahlen nicht nur aufgrund der Corona-Krise nach hinten geschoben. 

Warum wird argumentiert, dass das Schlangestehen an den Urnen ein zu großes Infektionsrisiko birgt, wenn gleichzeitig in der Pandemie die Leute, die eine Hilfsleistung von der Regierung erhalten, für diese an den Banken Schlangestehen müssen? Das ist widersprüchlich und hat zu massiven Protesten geführt – unter anderem von den Gewerkschaften, aber auch von Seiten der MAS (Bewegung zum Sozialismus), der Partei von Evo Morales. 

Zudem kandidiert die Interimspräsidentin Jeanine Áñez selbst für das höchste Staatsamt bei den Wahlen vom 18. Oktober. Ist das nicht ein Interessenskonflikt?

Sehen Sie eine Chance das Land zu befrieden? Die Gesellschaft scheint stark polarisiert.

Die einzige Chance, das Land zu befrieden, sind die Wahlen. Wir brauchen eine demokratisch legitimierte Regierung, die die Mehrheit der Bevölkerung vertritt und nicht nur eine kleine Kaste politisch und ökonomisch einflussreicher Familien, wie es derzeit mehr oder minder der Fall ist. Das ist der Weg zurück in das Bolivien der 1990er Jahre und das sorgt für Proteste. Vorwiegend die Menschen indigener Herkunft sehen errungene Erfolge der letzten zwanzig Jahre gefährdet und fühlen sich von der Interimsregierung nicht repräsentiert. Die Interimsregierung verletzt ihren Auftrag und verändert die politischen Spielregeln: Sie macht, was sie will, und dreht die Uhr zurück. Das ist frustrierend. 

Allerdings verweist die Regierung auch darauf, dass sie Geld in die Hand nimmt, um die soziale Krise im Kontext der Pandemie abzufedern. Korrekt?

Ja, aber diese Gelder kommen nicht an. Sie erreichen die Menschen in den ländlichen Regionen so gut wie gar nicht. Es gibt viele Indizien für Korruption und etliche bewiesene Korruptionsfälle – das ist eine bittere Realität. Ein Gesundheitsminister musste zurücktreten, weil er nicht nur die falschen Beatmungsgeräte gekauft hat, sondern auch noch für das Dreifache des gängigen Preises. Das ist nur ein Beispiel unter vielen, und immer wieder sind es die ländlichen Gemeinden, die betroffen sind. Dort kommt kaum ein Medikament an und die Gesundheitseinrichtungen sind in einem jämmerlichen Zustand. Selbst für meinen Wohnort El Alto, eine Stadt mit 1,1 Millionen Menschen oberhalb von La Paz, trifft das zu. 

Wie ist dort die Situation?

Die Leute trauen sich kaum mehr in die Krankenhäuser, weil sie Angst haben, sich dort zu infizieren. Das ist ein reales Risiko, denn das Gesundheitssystem ist unterfinanziert, schlecht ausgestattet und das Personal wird schlecht bezahlt. Daher besinnen sich viele Aymara-Indigen auf die traditionelle Medizin. Es sind meist Heilkräuter, die angewandt werden: Thymian, Minze, aber auch international weniger bekannte Kräuter und Wurzeln gegen Atemwegserkrankungen und Bronchialbeschwerden. Es gibt Tees, Limonaden, Balsam und etliche andere Dinge. Die Leute sind sensibilisiert und stärken ihre Immunsystem. Für uns ist das die einzige Alternative, denn die Krankenhäuser sind überfüllt und schlecht ausgestattet. Viele Aymara verlassen die Städte und gehen zurück in ihre Dörfer, weil das Infektionsrisiko in der Stadt einfach höher ist. 

Warum ist das Gesundheitssystem so schlecht aufgestellt?

Das Gesundheitssystem wurde unter Evo Morales ausgebaut. In El Alto aber auch in abgelegenen Regionen wurden Krankenhäuser und Gesundheitsposten eingerichtet. Was allerdings nicht sonderlich gut funktioniert hat, ist die Ausstattung dieser Einrichtungen mit Personal und Material – da gab es immer wieder Defizite, die auch unter der Interimsregierung nicht beseitigt wurden. Dann kam die Pandemie und traf uns vollkommen unvorbereitet. Dafür zahlen wir nun einen hohen Preis und dafür ist die Interimsregierung mitverantwortlich.

Durch die Gesellschaft Boliviens zieht sich ein tiefer Graben. Trägt dazu auch das Gerichtsurteil bei, welches Evo Morales vor wenigen Wochen die Kandidatur für den Senat verweigerte?

Ja, es trägt dazu bei. Ich denke, dass uns nur ein fairer und transparenter Wahlgang retten kann, um wieder zu einer legitimierten Regierung zu kommen. Die wird viele Reformen initiieren müssen. Sie sollte zum Beispiel für eine größere Unabhängigkeit der Justiz sorgen, die immer wieder nur als Ausführungsorgan der Politik agiert. Das ist ein weiteres strukturelles Problem Boliviens. 

Interview: Knut Henkel

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