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Venezuela: Kein Benzin, lange Schlangen und Tauschhandel

Wegen der anhaltenden Inflation in Venezuela hat die Regierung eine Währungsreform zum 1. Oktober angekündigt. Sechs Nullen sollen aus der Landeswährung Bolívar gestrichen und zusätzlich der digitale Bolívar eingeführt werden. Ob die angekündigte Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Machthaber Nicolás Maduro und der Opposition den politischen Durchbruch bringt, ist unsicher.

Venezolanische Flüchtlinge werden in Brasilien von Mitarbeitern der Migrantenpastoral mit Lebensmitteln versorgt. Fotos: Adveniat/Florian Kopp

Venezolanische Flüchtlinge werden in Brasilien von Mitarbeitern der Migrantenpastoral mit Lebensmitteln versorgt. Fotos: Adveniat/Florian Kopp

Wenn man Marita Carmona fragt, wie sie ihre Tage verbringt, dann bekommt man eine sehr typisch venezolanische Antwort. Sieben Tage daheim im Lockdown, sieben Tage auf der Suche nach Benzin, Lebensmitteln und bezahlbaren Medikamenten für ihre kranken Eltern. Eine Woche Quarantäne wird in Venezuela abgelöst von einer Woche Ausgang, um arbeiten und einkaufen zu können. So hat es die Regierung von Präsident Nicolás Maduro verordnet, um zum einen die Pandemie einzugrenzen, aber zugleich den Menschen nicht auch noch ihre Lebensgrundlage komplett zu nehmen.

1 Dollar für 4 Millionen Bolívar

Marita Carmona nimmt diesen Rhythmus gelassen. Sie ist krisenfest. Venezuela steckt seit gefühlt einer Dekade nicht nur in einer politischen, sondern auch in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die 37-Jährige erinnert sich noch an die Jahre 2015 bis 2017, als es praktisch nichts zu kaufen gab - oder nur überteuert auf dem Schwarzmarkt. Damals waren die Geschäfte leer, in langen Schlangen windeten sich die Menschen um Supermärkte, um eines der knappen Güter und Lebensmittel zu ergattern. „Heute ist wieder alles da, wie von Zauberhand“, erzählt Carmona am Telefon. Kaffee, Milch, Reis, sogar mehrere Sorten von allem. Selbst Kaviar gibt es. „Aber es ist so teuer, dass es kaum einer bezahlen kann, es sei denn, er verfügt über Dollars“. 
 
Denn die Wirtschaft Venezuelas ist faktisch dollarisiert. „In der Autowerkstatt, im Krankenhaus, in der Fleischerei, überall sind die Preise in Dollar ausgewiesen“, erläutert Carmona. Aber man kann noch immer in Bolívar bezahlen. Nur ist es schlicht oft praktisch unmöglich. Bei einem Tausch von 1 Dollar zu vier Millionen Bolívar kann man ja kaum ein Brötchen mit Papiergeld bezahlen. Und so werden inzwischen mehr als die Hälfte aller kleinen und großen Geschäfte in der US-Währung abgewickelt. 

Tauschhandel blüht

Aber weil der Dollar eben nicht offiziell ist und laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut Ecoanalítica nur zwölf Prozent der Bevölkerung damit entlohnt werden, öffnet sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter. In der Folge ist der Tauschhandel zurück: Reis gegen Waschmittel, Hühnchen gegen Aspirin, Nudeln und Linsen gegen Zahnpasta. 
 
Venezuela, einst dank der reichen Ölvorkommen eines der prosperierenden Länder Lateinamerikas, ist seit vielen Jahren Synonym für Krise und Hyperinflation. Jahr für Jahr werden schwindelerregende Teuerungsraten verzeichnet. 2020 betrug die Inflationsrate nach Angaben der Zentralbank BCV 2.959 Prozent. Ein Mindestlohn in Venezuela ist derzeit gerade noch 2,50 Dollar wert. 

Venezolaner flüchten ins Ausland

Guillermo Arcay, Ökonom an der katholischen Universität Andrés Bello in Caracas, schätzt, dass die Wirtschaft in Venezuela seit 2013 um vier Fünftel geschrumpft ist. Die Ursachen sind die immer gleichen: Preis- und Devisenkontrollen, Korruption, Verstaatlichung von zentralen Sektoren, Drohungen gegen die Privatwirtschaft, der Verfall des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, Kapitalflucht, Sanktionen im Ausland. Auch die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren mehr als fünf Millionen Venezolanern ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben, um woanders ein besseres Leben zu suchen, spielt eine Rolle. Und letztlich hat die Pandemie der Volkswirtschaft den Rest gegeben.
 
Wegen all dessen greift die Zentralbank jetzt wieder zu einem bekannten Schritt. Mit einer Währungsreform werden ab dem 1. Oktober sechs Nullen von der Landeswährung Bolívar gestrichen. Aus 1.000.000 Bolívar wird 1 Bolívar. Es ist die dritte Währungsreform in den vergangenen 13 Jahren linksnationalistischer Regierungen. Insgesamt wurden dann bereits 14 Nullen gestrichen. Zudem tritt am 1. Oktober der „digitale Bolivar“ in Kraft, eine Art neuer Währung. Venezuela versuchte bereits seit Jahren vergeblich, mit dem „Petro“ als Digitalwährung der Geldknappheit und den Sanktionen zu entgehen. 

Treibstoffmangel lässt Wirtschaft brachliegen

Ökonomen sind skeptisch, dass die erneute Währungsreform etwas am wirtschaftlichen Desaster im Land ändert. „Solange die strukturellen Probleme nicht beseitigt werden, wird die Hyperinflation bleiben“, sagt Víctor Álvarez, ehemaliger Minister unter Präsident Hugo Chávez. Dessen Nachfolger Maduro habe den größten Anteil an den Verwerfungen im Finanz- und Wirtschaftssektor, die dafür verantwortlich sind, dass sich die Vermögen der Venezolaner pulverisiert. 
 
Neben der Inflation kostet die ständige Suche nach Benzin die Venezolaner die meisten Nerven. Wegen der Sanktionen bekommt das Land keinen Treibstoff aus den USA oder anderen westlichen Ländern und kann wegen des Verfalls des eigenen Ölsektors so gut wie kein Benzin und Diesel selbst produzieren. Der Iran hilft, wenn er kann. Die Folge sind ständige Engpässe und lange Schlangen an den Tankstellen. „Selbst in Caracas stehen die Menschen stundenlang an. In den Provinzen sind es oft Tage“, sagt Marita Carmona. In der Folge verrotten landwirtschaftliche und andere Güter, weil die LKWs sie nicht vom Produktions- an den Verkaufsort transportieren können. So kommt keine Volkswirtschaft jemals wieder auf die Füße. 

Dialog zwischen Regierung und Opposition

Auch deshalb wollen die venezolanischen Konfliktparteien noch mal einen Versuch starten, mit Verhandlungen die politische Blockade aufzulösen, in der das Land gefangen ist. Mitte August sollen unter norwegischer Vermittlung in Mexiko Gespräche zwischen der Maduro-Regierung und der tief zerstrittenen Opposition beginnen. 
 
Das Misstrauen bei der Opposition ist riesig, denn in den vergangenen Jahren verliefen alle Gesprächsversuche im Sand. Die Regierung machte nie Zugeständnisse, sondern wollte immer nur Zeit gewinnen. Aber jetzt lassen die Sanktionen den Machthabern in Caracas kaum noch Luft zum Atmen. Vor allem deshalb stimmten sie einem entsprechenden Vorschlag des Oppositionspolitikers Juan Guaidó von Mitte Mai zu. 
 
Der Schriftsteller Alberto Barrera Tyzka hält die Rückkehr an den Verhandlungstisch für die einzig mögliche Chance auf einen Ausweg. „Beide Seiten sind mit ihren Alles-oder-Nichts-Strategien gegen die Wand gefahren“. Verhandlungen seien nicht „ideal, aber möglich“, betont Barrera Tyzka. Und sie müssten sich darauf konzentrieren, Verbesserungen und Erleichterungen für die Bevölkerung zu vereinbaren. 

Autor: Klaus Ehringfeld, Mexiko

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