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Soziales |

Ohne Arbeit kein Essen - Corona verschärft Armut

Lateinamerikas Gesundheitssysteme sind schlecht ausgestattet und nicht flächendeckend präsent. Ein Grund, weshalb die allermeisten Regierungen schnell den sanitären Notstand ausgerufen und oft auch nächtliche Ausgangssperren verhängt haben. An die ärmsten Bevölkerungsschichten haben dabei nur wenige Regierungen gedacht. Die leben von der Hand in den Mund und können nicht einfach zu Hause bleiben. Das könnte zur Zeitbombe werden, so Experten aus mehreren Ländern.

Markt, Jaén, Peru, Straßenverkäufer,

Markt in Jaén, Peru: Wer von der Hand in den Mund lebt, kann nicht einfach zu Hause bleiben. In der Corona-Krise brauchen die Straßenverkäufer finanzielle Unterstützung, um zu überleben. Foto: Adveniat/Martin Steffen

Am 26. Februar wurde der erste positive Coronatest in Lateinamerika bekanntgegeben – in Sāo Paulo. Seitdem hat eine Regierung nach der anderen das gesellschaftliche Leben heruntergefahren. In Guatemala wurden die Schulen am 12. März geschlossen, in Bolivien am gleichen Tag, in Ecuador am 13. März und in Kolumbien am 16. März. Das war jedoch nur der Auftakt für das Einfrieren des gesellschaftlichen Lebens ähnlich wie in Europa. Allerdings gehen die Maßnahmen in vielen Ländern Lateinamerikas weit darüber hinaus. Ausgangssperren und reduzierte Öffnungszeiten von Märkten und Lebensmittelgeschäften gehören zum Arsenal der strengen Vorschriften in den vier genannten, aber auch in vielen anderen Ländern der Region. Deren Einhaltung wird von Armee und Polizei durchgesetzt. In einzelnen Städten, wie dem ecuadorianischen Guayaquil, ist es zu einer Militarisierung gekommen.

„Dabei hat die Regierung aber eines vergessen: die Mehrheit der Bevölkerung in Ecuador, aber auch in der Mehrheit der Länder Lateinamerikas leben im und vom informellen Sektor“, sagt Alberto Acosta. „Wer nicht arbeitet, isst nicht, lautet das ungeschriebene Gesetz. Ernährungsprogramme für die Bevölkerung wurden nicht nur in Ecuador schlicht vergessen“, so der für eine nachhaltige, ressourcenschonende und soziale Wirtschaft eintretende Ökonom. "In Ecuador betrifft das rund 60 Prozent der Bevölkerung, die auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind.". 

Proteste und Scharmützel mit der Polizei

Das hatte Folgen. In Guayaquil, der am heftigsten vom Coronavirus betroffenen Stadt des Landes, aber auch in der Hauptstadt Quito protestierten Straßenhändler am 24. März gegen das rigide Vorgehen von Polizei und Militärs. Das ist in Guatemala, Bolivien oder dem benachbarten Kolumbien, wo es im Verwaltungsbezirk La Guajira zu Plünderungen von Supermärkten kam, kaum anders. Hinzu kommt, dass auf kleinen Flächen gewohnt wird, Häuser und Wohnungen oft im schlechten Zustand und die sanitären Verhältnisse unzureichend sind. Das regelmäßige Händewaschen ist kaum möglich, wo es an fließend Wasser fehlt. Obendrein ist in vielen Ländern der Region der Zugang zum Gesundheitssystem für die Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, erschwert. Dabei ist die Gesundheitsversorgung nicht per se schlecht, aber es hat sich eine Zwei-Klassen-Medizin etabliert: Top ausgestatteten Privatkliniken stehen heruntergekommene öffentliche Krankenhäuser gegenüber, so schreibt Stefan Peters, Forscher am Deutsch-Kolumbianischen Friedensinstitut Capaz in Bogotá in einem Beitrag für die kolumbianische Wochenzeitung „Semana“. Ein ähnliches Phänomen ist im Bildungssystem zu beobachten. Letztlich entscheidet die soziale Herkunft beziehungsweise das Bankkonto über den Zugang zu Bildung und guter Gesundheitsversorgung.

Zwei-Klassen-Medizin

Dabei sind die Unterschiede zwischen Ecuador, Kolumbien oder Guatemala nur marginal. Positive Unterschiede kann auch der Soziologe Marco Gandarillas aus Bolivien kaum erkennen: „Unser Gesundheitssystem leidet unter langjährigen Investitionsdefiziten“, so der Entwicklungs- und Menschenrechtsexperte. Die Zahl der Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner von 1,1 liegt unter der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2,7. Landesweit gibt es nur 323 Betten mit intensivmedizinischer Ausstattung, so die Bolivianische Gesellschaft für Intensivtherapie. In der mit rund 1,1 Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt Boliviens, El Alto, gibt es nur acht Intensivbetten – 110 sollten es mindestens sein, laut den Empfehlungen der WHO. Ein alarmierendes Defizit. Zum Vergleich: Das Nachbarland Ecuador hat immerhin 1.183 Intensivbetten, Peru hingegen nur 685.

Das seien enorme strukturelle Defizite, die die marginalisierten Gesellschaftsschichten, Obdachlose, Migranten, Indigene oder Straßenhändler, überproportional treffen, so Gandarillas unisono mit seinem Kollegen Danilo Rivera aus Guatemala. Das mittelamerikanische Land ist Transitland in Richtung USA. Daran hat sich auch seit der Coronakrise nichts geändert. „Aus Haiti, aber auch aus Westafrika und Honduras sowie El Salvador sind viele Menschen unterwegs. Immerhin hat die Regierung Ende März endlich Sozialprogramme aufgelegt, die sowohl Migranten als auch Straßenhändlern zugute kommen“, so Rivera. 

Hilfe für den informellen Sektor

Ambulantes werden die fliegenden Händler in Lateinamerika genannt, deren Geschäft  mit der Quarantäne weggebrochen ist. Schuhputzer, die Orangensaftverkäufer in den Einkaufszonen genauso wie die Kleinhändler, die von der Handyhülle bis zur Zigarette alles Mögliche und Unmögliche anbieten, haben ihre Geschäftsgrundlage verloren – von Alaska bis Feuerland. Als erstes Land ist dabei Bolivien aktiv geworden. Am 25. März kündigte die konservative Interimspräsidentin Jeanine Áñez die Ausgabe eines Lebensmittelkorbs an 1,6 Millionen bedürftige Bolivianer im Wert von 500 Bolivianos (umgerechnet rund 60 Euro) an. Diese Woche soll das Geld ausgezahlt werden. Ergänzend übernimmt die Regierung die Hälfte der Strom- und Wasserrechnung der betreffenden Familien für die Monate März bis Mai.

Dem bolivianischen Beispiel sind auch andere Regierungen nicht zuletzt aus Angst vor Plünderungen von Supermärkten und Unruhen gefolgt. Guatemala etwa und auch Ecuador haben Geld für Lebensmittelprogramme bereitgestellt. Entscheidend wird jedoch sein, ob die Hilfsmaßnahmen schnell und unbürokratisch umgesetzt werden, mahnt der ecuadorianische Gesundheitsexperte Juan Cuvi. „Das Risiko, dass die Leute aus Hunger die Quarantäne verletzen, ist real. Da tickt eine Zeitbombe“, warnt er. Das gilt nicht nur für Ecuador, sondern für nahezu alle Länder der Region, die sich einer medizinischen und sozialen Katastrophe gegenübersehen. 

Forderung: Aussetzung der Schuldenzahlungen

An diesem Punkt setzt Alberto Acosta an. Der globalisierungskritische Ökonom plädiert nicht nur für die Aussetzung der Schuldenzahlung an internationale Gläubiger wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, sondern auch für eine Neuausrichtung des Entwicklungsmodells inklusive sozialer Grundsicherung. Für Lateinamerika sind das revolutionäre Forderungen. 

Autor: Knut Henkel

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