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Kolumbien: Protest in Cali - "Wir brauchen einen Wandel"

Zehntausende Menschen demonstrieren seit mehr als einer Woche in Kolumbien. Die Polizei schlägt die Proteste teils brutal nieder. Internationale Organisationen verurteilen die Gewalt.

Tausende haben in Cali, Kolumbien, in den vergangenen Tagen demonstriert - erst gegen Steuererhöhungen, mittlerweile auch gegen Polizeigewalt. Foto: Antonia Schaefer

Tausende haben in Cali, Kolumbien, in den vergangenen Tagen demonstriert - erst gegen Steuererhöhungen, mittlerweile auch gegen Polizeigewalt. Foto: Antonia Schaefer

„Sie haben mich gepackt und zu einem Transporter geschleift“, sagt Isabela. „Dabei stand ich nur am Straßenrand und habe auf einen Freund gewartet.“ Die 20-Jährige schildert eine Situation, die sie vor einigen Tagen während des Nationalstreiks in Cali erlebte. Sie spricht von einer Entführung durch den Staat. 

Mehr als 20 Tote und 300 Verschwundene

Isabella streckt ihre Unterarme aus. Die blauen Flecken wirken beinahe frisch, obwohl sie bereits einige Tage alt sind. Mehrere Einsatzkräfte der Sicherheitseinheit ESMAD hätten sie geschlagen, erzählt sie. Dann sei sie mit einem Transporter in eine Polizeistation gebracht worden, die in einem anderen Viertel steht. Dort sei sie in einen Raum mit rund einem Dutzend Männer gebracht worden. Alles Festgenommene. Sie hätten sie sexuell belästigt. Erst am Abend hätten die Polizeibeamten sie gehen lassen. 

Es gibt viele Geschichten wie die von Isabela. Die meisten spielen in den vergangenen Tagen in Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens. Alle handeln von Polizeigewalt. Mehr als 20 Menschen sind während der Proteste im Land von Polizisten oder Spezialeinheiten getötet worden. Es gibt Hunderte Verletzte, mehr als 300 Menschen sind laut übereinstimmenden Angaben verschiedener NGOs verschwunden. 

Barrikaden blockieren die Versorgung

In Melendez, einem der südlicheren Stadtviertel, stehen die Barrikaden der Primera Línea – der ersten Linie. So heißt die Verteidigungsfront der Demonstrierenden. Sie haben die wichtigste Nord-Südverbindung der Stadt, die Calle 5, komplett abgesperrt. Wellblech, brennender Müll und Baumstämme liegen quer über der Fahrbahn. Es ist ein strategischer Ort für eine Blockade: Im Süden Calis gibt es viele reiche Viertel.

„Wir wollen den Transport von Nahrungsmitteln und Benzin zu den Reichen unterbrechen“, sagt Andres. „Nur durch solche Blockaden können uns Gehör verschaffen.“ Der 24-Jährige gehört zu der Ersten Linie, die sich auch körperlich den Einsatzkräften von Polizei und ESMAD entgegenstellt. Mehr als eine Woche ist er bereits hier. Seine Mutter kümmert sich in der Zwischenzeit um seine kleine Tochter. 

Es habe auch hier einige Verletzte gegeben, erzählt Andres. Er hält seinen gelben Schutzhelm in der Hand. „Sie schießen auf den Kopf und das Gesicht, sie müssen verrückt sein.“ Er habe bisher zum Glück nur Tränengas abbekommen. 

Protestierende fordern Rücktritt des Präsidenten

Hinter den Barrikaden demonstrieren etwas 500 Menschen friedlich. Es gibt Brot und süße Limonade, Spenden von umliegenden Läden, die den Protest unterstützen. Als die Indigenen der Minga aus dem Umland auf großen bunten Bussen, Chivas genannt, eintreffen, beginnen die Menschen zu singen. Später schließen sich Hunderte Mitglieder der katholischen Kirche dem Protest an. An den Barrikaden beten sie, teilweise auf Knien, für den Schutz der Demonstrierenden der Ersten Linie. Eine ältere Frau umarmt Andres unter Tränen. 

Mehr als eine Woche dauern die Proteste an. Der Auslöser war eine Steuerreform. Sie verursachte Angst, dass vor allem Menschen mit geringeren Einkommen stärker belastet würden. Präsident Iván Duque hat die Reform inzwischen zurückgezogen. Doch die Wut der Demonstrierenden im Land hat nicht nachgelassen. Denn die Probleme gehen tiefer: Seit Ausbruch der Coronapandemie haben viele Menschen hier ihre Arbeit verloren. Essenspakete und finanzielle Hilfen der Regierung kamen teils nicht an. Die Not hält die Menschen auf der Straße, doch die Wut richtet sich mittlerweile gegen die großen Probleme des Landes: Korruption der reichen Eliten, Chancenlosigkeit der Jugend und mittlerweile eben auch die Polizeigewalt während der Proteste. Viele Menschen fordern den Rücktritt des Präsidenten. 

Hinweise auf Verletzung der Menschenrechte durch Polizisten 

Besonders seit klar wird, mit welchen Methoden die Polizei gegen die Demonstrierenden vorgeht. Am Donnerstag, den 6. Mai, sprangen Männer in zivil aus einem ungekennzeichneten Transporter an der Portada al Mar im Westen der Stadt. Die Männer mischten sich unter die Demonstrierenden und feuerten mit Gummi- und Plastikgeschossen in die Menge. Mindestens drei Menschen wurden verletzt, einer schwer. 

In dem Transporter fanden Demonstrierende Polizeikleidung, gleichzeitig soll anhand des Kennzeichens festgestellt worden sein, dass es sich um einen Polizeitransporter handelt. Später bestätigte die Polizei offiziell, dass es sich bei den Männern in zivil um Polizisten handelte. Natalia Gonzalez Arce, Untersekretärin für Menschenrechte der Stadt Cali, hat den Transporter untersucht und Blutreste im Inneren festgestellt. „Es gibt hier klare Hinweise auf die Verletzung von Menschenrechten“, sagt sie. 

Sergio sitzt in einem Versorgungszentrum unweit des Vorfalls. Er war dabei, als der Transporter ankam. „Sie wollten sich unter die Demonstrierenden mischen und die Anführer töten, davon bin ich überzeugt.“ Sie hätten niemanden verhaftet, das zeige doch, dass sie unrechtliche Absichten gehabt hätten. 

Dialog zwischen Regierung und Demonstrierenden

Mittlerweile haben internationale Organisationen die Gewalt von Seiten der Polizei verurteilt. So etwa das Büro der UN-Hochkommisarin für Menschenrechte. Abgeordnete des Deutschen Bundestages mahnten in einem offenen Brief an Präsident Duque zur Einhaltung der internationalen Standards für Polizeieinsätze bei Protesten. „Duque muss die maßlose Gewalt von Polizei, Militär und anderen sogenannten Sicherheitskräften umgehend stoppen“, forderte auch Monika Lauer Perez, Kolumbien-Referentin des deutschen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat (zur Adveniat-Pressemitteilung).

An der ersten Linie in Melendez beobachtet Andres in den letzten Tagen, dass die Polizei ruhiger werde. „Auch viele von Ihnen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen“, sagt er. An manchen Orten hätten sich Einsatzkräfte bereits den Protesten angeschlossen. „Es gibt auch unter ihnen Menschen, die ihr eigenes Volk nicht angreifen wollen.“ Das macht Andres Hoffung. Mehr Hoffnung als die Dialoge, die die Politik für den 10. März mit Demonstrierenden organisiert hat. „Sie werden wieder große Änderungen versprechen und dann passiert genau gar nichts. Aber wir brauchen einen richtigen Wandel.“

Autorin: Antonia Schaefer, Kolumbien

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