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Mexiko |

Interview: "Asyl kann man doch keinem verwehren!"

In Mexiko mussten seit dem Jahr 2006 rund 357.000 Menschen wegen Gewalt ihre Herkunftsregionen verlassen. Im letzten Jahr flohen die meisten Personen aus den Bundesstaaten Chiapas, Michoacan, Chihuahua und Zacatecas. Da das Recht auf Asyl in den USA während der Pandemie ausgehebelt wurde, leben viele dieser Menschen heute in einer Herberge an der mexikanischen Grenze. Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge ist vor dem Terror des Drogenhandels aus ihren Herkunftsregionen geflohen, wo verfeindete Kartelle um die Vorherrschaft kämpfen. Eine Rückkehr könnte den Tod bedeuten. So auch für die Familie von Sandra und Fernando*, die aus Michoacán fliehen mussten.

Sandra und Fernando aus Michoacán sind mit ihren drei Kindern vor dem Terror der Drogenkartelle geflohen. Foto: Leobardo Alvarado

Sandra und Fernando aus Michoacán sind mit ihren drei Kindern vor dem Terror der Drogenkartelle geflohen. Foto: Leobardo Alvarado

Warum mussten Sie alles zurücklassen?

Fernando:  Es gab keinen Ausweg. Denn weißt du, in Michoacán ist es gefährlich wegen der Mitglieder des Organisierten Verbrechens. Sie sagten mir, ich solle für sie arbeiten. Das ist allerdings keine Frage. Sie kommen zu dir und sagen: 'Los, wir brauchen dich an der Front.' Aber ich habe mich geweigert. Da haben sie mir gedroht, dass sie dann eben meinen ältesten Sohn mitnehmen. Er ist gerade einmal dreizehn Jahre alt! So jung nehmen sie Kinder dort zum Kämpfen mit, bewaffnen sie, um sie in den Tod zu schicken. Natürlich lasse ich nicht zu, dass sie ihn umbringen, und mich auch nicht und meine Frau und meine beiden anderen Kinder ebenso wenig. 

Sandra: Wir haben uns entschlossen zu gehen. Wozu warten, dass sie zurückkommen und meinen Sohn mit Gewalt mitnehmen? Dass sie vermummt ins Haus stürmen? Sie kamen des nachts zu uns. Diese Leute bitten nicht um Einlass, auf einmal stehen sie bewaffnet vor dir, bei dir im Wohnzimmer. 

Wie kam es, dass sich die Situation bei Ihnen zuhause so dramatisch zuspitzte?    

Sandra: Meine Farm trennt zwei Kartelle voneinander. Auf einmal lag sie mitten im Kriegsgebiet. Andauernd gab es Gefechte. Auf unserem Hof fand einmal eines statt, das dauerte vier Stunden lang. Wir lagen mit unseren Kindern unter den Betten und haben nicht gewagt, uns zu rühren.

Fernando: Stell dir meinen Sohn in so einer Auseinandersetzung vor! Da ist man dem Tod geweiht... Wir wohnen eben genau auf der Frontlinie, wir wohnen hier und fünf Minuten entfernt steht das nächste Kartell. Sie kämpfen dort, um, na, keine Ahnung, um Territorium, um Anbauflächen, Fernstraßen, um Bergbauminen.

Wer ist mit ihnen geflohen?

Sandra: Unsere drei Kinder; sieben, neun und dreizehn Jahre sind sie alt. Und dann auch mein Bruder und seine Freundin. Meinen Bruder wollte die Mafia ebenfalls zwangsrekrutieren. Er war Marineanwärter und für sie damit besonders wertvoll, ihn in ihren Reihen zu haben. Sie wollten, dass er sie ausbildet. Wir haben uns entschieden, dass es keinen Ausweg mehr gibt, dass wir so schnell wie möglich verschwinden müssen. Eines Nachts sind wir aufgebrochen.

Fernando: Mein Bruder wurde schon vor sieben Jahren von der Mafia umgebracht. Damals hat meine Familie geschwiegen und so konnten wir uns schützen und weiterleben. Das ist eine furchtbare Ohnmacht, keine Gerechtigkeit für ihn einfordern zu können. Ich dachte immer, wenn ich weiter so lebe, ohne den Mund aufzumachen, mit geducktem Kopf, dann wird es schon irgendwie gehen. Aber du kannst dich der Macht der Mafia nicht entziehen.

Wie sind Sie geflohen?

Fernando: Ich sagte meiner Frau: 'Pack nur das Nötigste zusammen. Wertsachen, Dokumente und ein bisschen Kleidung.' Um drei Uhr nachts haben wir die Kinder geweckt und sind los. Ein Nachbar hat uns eineinhalb Stunden in die nächste Stadt gefahren. 

Sandra: Es war eine Zitterpartie, wir hatten solche Angst, in eine der Straßenkontrollen der Kartelle zu kommen. Nachts herrscht Ausgangssperre. Dann haben wir uns Bustickets gekauft und sind zwei Tage durch Mexiko gefahren. Es ist ein riesiges Land. Bis hier an die Grenze. 

Nun leben Sie in einer Herberge mitten in der Wüste und an der Mauer zu den USA...

Fernando: Wir können ja nicht zurück. Damit würden wir uns der Mafia ausliefern. Hier ist es ganz anders als in Michoacán. Wir haben hier im Winter zum ersten Mal Schnee gesehen. Ich wusste nicht, dass es in der Wüste schneit. Bei uns zuhause ist alles grün. Es ist immer heiß und alles ist voller Bäume. Nur die Kartelle, die sind hier auch. Wir können die Herberge nicht verlassen. Das ist sehr bedrückend, die ganze Zeit eingesperrt zu sein. Und es gibt keine Privatsphäre, ich schlafe mit meinen beiden Söhnen in einem Schlafsaal, meine Frau mit unserer Tochter in dem anderen.

Sandra: Für mich hat sich nicht viel geändert. Ich konnte auch bei uns zuhause nicht mehr vor die Tür gehen. Während mein Mann jeden Tag Fischen gegangen ist... Er war Fischer an einem großen Stausee... Währenddessen saß ich mit den Kindern zuhause. Schule gab es ja eh keine in der Pandemie. Und draußen war alles voller Bewaffneter. Sie machen mit den Frauen, was sie wollen. Es kann ihnen ja keiner was sagen. Sobald dort die Dunkelheit einbrach, bekam ich es auch zuhause mit der Angst zu tun. Hier können wir wenigstens ruhig schlafen.

Haben Sie Kontakt mit Ihrer Familie in Michoacán?

Sandra: Ja. Ich mache mir große Sorgen um meine Eltern. Wir mussten sie dort zurücklassen. Meine Mutter leidet unter Arthritis, sie kann sich kaum noch bewegen. Ich habe ihr bei allem helfen müssen, sie zum Arzt gefahren. Aber sie sagt, dass es ihr gut geht, dass sie doch auch nicht mehr schlafen konnte vor Angst um ihren Enkel. Dass sie mit mir sterben würde vor Schmerz, würden sie ihn mitnehmen. 'Ich bin so beruhigt, meine Tochter, das du dort bist, so weit weg', sagt sie. Aber mir bricht es das Herz, es tut mir unendlich weh, an sie zu denken. Ich mache mir große Sorgen, ob ich sie je wiedersehen werde.

Was sind ihre weiteren Pläne?

Sandra: Ich habe eine Schwester in Sacramento, Kalifornien. Die Anwälte einer Organisation helfen uns, ein Asylverfahren in den USA anzustreben, und dass wir solange bei meiner Familie in Kalifornien unterkommen können. Als wir an die Grenze kamen und uns die Border Patrol auffasste, hatten wir keine Möglichkeit, um Asyl zu bitten. Wir wurden einfach nach Mexiko zurückgeschoben. Es gibt einen „Titel 42“ der das möglich macht. Er wurde in der Pandemie eingeführt. Der Präsident der USA will ihn aufheben, aber bisher hat er es nicht geschafft. 

Fernando: In den USA ist ein anderes Leben möglich. Dort gibt es eine Regierung und hier nicht. Hier ist es die Mafia, die alles in der Hand hat. So kann man doch nicht leben. Es sind dieselben, mit Uniform oder ohne Uniform, auf einem Regierungsposten oder mit dem Maschinengewehr in der Hand. Deshalb kannst du ja auch keine Anzeige stellen. Und in jedem Bundesstaat sind sie vertreten und stehen untereinander im Austausch. Sie sagen, schaut mal, den kennen wir doch, bringt mir den mal fein zurück. Keine Ahnung, was mit uns passieren wird. Aber Asyl kann man doch schließlich keinem verwehren.
*Namen von der Redaktion geändert

Nachtrag: Mittlerweile sind Sandra, Fernando und ihre drei Kinder bei ihrer Schwester in den USA angekommen und warten dort ihr Asylverfahren ab. Familien mit Minderjährigen haben mit juristischer Unterstützung eine Chance auf eine solche Ausnahmeregelung. Generell bleibt das gesundheitspolitische Dekret 42 aber bestehen. US-Präsident Joe Biden wurde zuletzt am 20. Mai von einem Bundesgericht in Lousianna untersagt, es - wie geplant - drei Tage später aufzuheben. Es wurde unter seinem Vorgänger Donald Trump am 20. März 2020 eingeführt, als die Außengrenzen der USA in der akuten Coronapandemie schlossen. Das von den Vereinten Nationen 1948 verankerte Grundrecht auf Asyl bleibt damit weiter ausgehebelt. Fast 230.000 Menschen aus aller Welt wurden letztes Jahr bei dem Versuch, die Grenze zu den USA zu überqueren, aufgegriffen. Über 130.000 beantragten Asyl im Transitland Mexiko.

Adveniat hilft Menschen auf der Flucht
In der vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützten Herberge "Casa Mambré" in Mexiko-Stadt erhalten Menschen auf der Flucht nicht nur Nahrung und Kleidung, sondern auch medizinische und psychologische Hilfe. Helfen Sie mit einer Spende!

Interview: Kathrin Zeiske, Mexiko

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