Migration in Mittelamerika: "Die Armut hat ein Gesicht"
Für viele Menschen in Mittelamerika und Haiti ist die Coronakrise der letzte Anstoß, die Armut in ihrer Heimat hinter sich zu lassen. Auf der Route Richtung Norden bieten ihnen Migrantenherbergen, die häufig von der Kirche finanziert werden, Unterkunft und Hilfe.
Vor einer Metalltür im alten Zentrum von Guatemala-Stadt wartet eine Gruppe Migrantinnen und Migranten, Erwachsene und Kinder, eng gedrängt auf Einlass. Für die Sozialarbeiterin Carina López sind solche Menschenansammlungen normal, auch jetzt, in Zeiten von COVID. „Hier in der Casa del Migrante haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Pandemie die Menschen nicht davon abhält, ihre Heimat zu verlassen. Im Gegenteil. Viele sehen die Migration als eine Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern.“
Corona lässt Arbeitslosigkeit steigen
Das Coronavirus hat die schon zuvor schwachen Volkswirtschaften Mittelamerikas und der Karibik weiter ausgebremst. “Eine Konsequenz der Pandemie war die Zunahme der Arbeitslosigkeit. Wir helfen Menschen, die das Ziel haben, Mexiko und die USA zu erreichen. Die meisten sagen, sie machen sich auf den Weg, weil sie in ihrem Herkunftsland keine Arbeit und kein Einkommen haben.“
In manchen Monaten lassen über Hunderttausend Menschen alles in ihrer Heimat zurück, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder. Das Ziel der meisten: die USA. In aller Regel führt ihr Weg durch Guatemala, die kleine Nation im Süden Mexikos. Dort leitet der brasilianische Scalabrianerpater Mauro Verzeletti die Casa del Migrante. „Seit Beginn der Pandemie entscheiden sich viele Familien in Honduras, El Salvador und Nicaragua zur Migration. Die sozialen Konflikte in diesen Ländern haben zugenommen. Genauso in Haiti. In den vergangenen Monaten haben wir dreihundert Haitianer unterstützt.“
Migration aus Mittelamerika und Haiti nimmt zu
Familien werden bevorzugt aufgenommen. Gerade für Kinder sind die Migrantenhäuser wichtige Überlebensanker. In den verschiedenen Ländern Mittelamerikas ermöglichen sie eine Pause, um neue Kraft für die nächste Etappe zu schöpfen, erklärt Pater Mauro: „Als Kirche bemühen wir uns, humanitäre Hilfe zu leisten, besonders jetzt in Krisenzeiten. Wir haben nicht die Möglichkeit, strukturelle Dinge zu ändern, aber im Sinne der Menschlichkeit versuchen wir, solidarisch zu sein. Am Samstag zum Beispiel haben wir hundertzwanzig Migrantenfamilien Tüten mit Nahrungsmittel gegeben.“
Baptiste aus Haiti ist froh, dass er mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter über die Schwelle der Eisentür treten darf. In dieser Nacht werden die drei in einem sauberen Doppelstockbett schlafen. Auf dem Rücken trägt er einen kleinen Stoffrucksack, in dem fast das gesamte Hab und Gut der Familie verstaut ist. „Als Corona angefangen hat, hatte ich keine Angst, mich auf den Weg zu machen. Weshalb ich keine Angst hatte? In Haiti gibt es keine Arbeit. Ich habe für meine Familie gekämpft, aber die Situation ist mies. Es wird immer schlimmer. Wie soll man da überleben?“
Pater Mauro: "Armut zerstört das Leben der Menschen"
Die meisten Haitianer und Mittelamerikaner verlassen ihre Heimat nicht primär aus Angst vor Verfolgung oder Gewalt. Deshalb haben sie - entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention - kein Recht auf Asyl. Man könnte sie wohl “Wirtschaftsflüchtlinge” nennen, aber mit diesem Begriff kann Pater Mauro nichts anfangen: „Die Armut ist grausam, hart, hier in Mittelamerika ist sie besonders furchtbar. An den Ampelkreuzungen wird die Armut der Familien offensichtlich. Da stehen sie und betteln, mit ihren weißen Flaggen. Kinder bitten um Nahrungsmittel. Die Armut hat ein Gesicht, die Armut bedeutet Obdachlosigkeit, die Armut zerstört das Leben der Menschen.“
Die Odyssee der haitianischen Migranten von ihrer karibischen Insel bis in die USA ist lang, strapaziös und gefährlich. Seit sich im Juli diesen Jahres mit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse die politische und wirtschaftliche Krise im Land vertieft hat, sind Zehntausende Flüchtlinge an der Küste von Kolumbien gelandet. In ihrer Heimat sehen die Gestrandeten keine Perspektive mehr.
Migranten riskieren ihr Leben
Die nächste Etappe laufen viele zu Fuß. Das sumpfige Urwaldgebiet Darién ist dem Roten Kreuz zufolge eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Baptiste erinnert sich, wie er tagelang über enge Pfade gelaufen ist. „Von Kolumbien aus kämpfen wir Haitianer uns da durch, genauso wie die Kubaner, die Venezolaner, die Afrikaner. Alle müssen dieselben furchtbaren Wege gehen. Es geht rauf und runter durch den Wald. Immer wieder mussten wir durchs Wasser waten, zusammen mit meiner Tochter und meiner Frau.“
Wem es gelingt, den Dariéndschungel bis nach Panama zu durchqueren, kann mit Bussen weiter reisen, durch die Länder Costa Rica, Nicaragua, Honduras und Guatemala. “Du nimmst den Kampf auf, um weiter zu kommen. In jedem neuen Land ruhst du dich aus. Wir sind jetzt hier in Guatemala. Ich habe kein Geld mehr. Von meinen Angehörigen in den USA überweist mir niemand mehr Geld.“
US-Behörden üben Druck auf Mexiko aus
Niemand will in Guatemala bleiben. Nahezu alle Migranten wollen Mexiko durchqueren, obwohl auf der Route dort mehr Gefahren auf sie warten als in allen anderen Ländern zuvor. Baptiste weiß nichts davon, dass die US-amerikanischen Einwanderungsbehörden zur Zeit starken Druck auf Mexiko ausüben. In diesem Jahr wurden mehr haitianische Flüchtlinge in Mexiko aufgegriffen und abgeschoben als je zuvor.
In der konkreten Unterstützung von Migranten in Not sieht Pater Mauro eine christliche Aufgabe: „Das Evangelium ist da eindeutig. Wir sind zu universeller Solidarität aufgerufen. Die Geschwisterlichkeit ist der Weg, um in diesen Zeiten der Pandemie das Zusammenleben der Menschen zu stärken. Nur so können die Hungrigen ein Leben führen, das ein wenig dem Reich Gottes entspricht, ein Leben in Würde. In dieser Welt gibt es so viel Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. Wir müssen Brücken bauen, damit der Reichtum aller gerecht verteilt wird.”