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Erinnerung an Paulo Freire - Jeder ist Lehrer, jeder ist Schüler

Im deutschen Sprachraum ist Paulo Freire weniger bekannt als andere Erziehungspioniere wie Maria Montessori oder Johann Pestalozzi. Dabei gehört der Brasilianer zu den einflussreichsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts.

Wandbild im Zentrum für Ausbildung, Technologie und Bildungsforschung Prof. "Milton de Almeida Santos" in Campinas, Brasilien. Foto: wikimedia commons, CCO1.0

Wandbild im Zentrum für Ausbildung, Technologie und Bildungsforschung Prof. "Milton de Almeida Santos" in Campinas, Brasilien. Foto: wikimedia commons, CCO1.0

Marxist - Philosoph - Volksaufklärer - Katholik: Paulo Freire war all das in einer Person. Der mittelmäßige Schüler aus dem Armenhaus des brasilianischen Nordostens, der als Kind hungern musste, und der Anwalt, der nicht länger den Besitz der Reichen verteidigen wollte, wurde Lehrer. Und Schüler. Als Freire in den 1950er Jahren seine Alphabetisierungskampagnen entwickelte, wurde ihm klar: Niemand ist nur Lehrer, niemand ist nur Schüler.

Niemand weiß alles, keiner weiß nichts

Das Eintrichtern eines intellektuellen Bildungskanons taugt nicht, um dem Analphabetismus und der Ignoranz gegenüber Ungerechtigkeit im Land beizukommen. Niemand weiß alles, und keiner weiß nichts, lautete eine seiner Devisen. Überhaupt gehe Lernen nur im Dialog. Wer Menschen, die nicht lesen und schreiben können, helfen will, ihr Wissen zu erweitern, muss bei dem ansetzen, was sie schon wissen. Also bei Werkzeugen, Haushaltsgegenständen, Familie, Wetter, Natur.

Für Freire bedeutete Bildung, die Welt zu begreifen. Auch im wörtlichen Sinn. Bei gemeinschaftlichen Gesprächen in Dörfern und Stadtteilen über solche Begriffe und Bilder flossen nach und nach die geschriebenen Wörter ein. Zuerst in Form von Silben wie "ca-sa" (Haus), "en-xa-da" (Hacke), "fa-mi-lia". Später entdeckten die Gruppen, wie Silben zu neuen Wörtern zusammengesetzt werden können. Rechtschreibung und Grammatik kamen dazu.

Erfolgreiche Alphabetisierungskampagne

Das klingt aus heutiger Sicht harmlos. Doch immer wieder mussten Pädagogen erleben, dass ihre Arbeit keineswegs harmlos ist. Im Brasilien der 1950er Jahren durften Analphabeten nicht wählen. Wenn dann hunderttausende arme Menschen plötzlich lesen, schreiben und wählen können, ist das längst nicht allen recht. Zwar unterstützte Brasiliens reformorientierter Präsident Joao Goulart ab 1961 Freires Alphabetisierungskampagnen. Als aber 1964 das Militär putschte, war Schluss.

Für Freire folgten Hausarrest, Gefängnis und das Exil in Chile. Dort veröffentlichte er sein bekanntestes Werk "Pädagogik der Unterdrückten". Es wurde in 18 Sprachen übersetzt. Weitere Bücher wie "Bewusstseinsbildung. Theorie und Praxis der Befreiung" und "Erziehung zur Freiheit" kennzeichnen die Anliegen des Erziehungsphilosophen.

Exil in Chile

Chiles damalige Regierung übernahm 1965 Freires Konzepte. Und wurde von der Unesco für besondere Fortschritte bei der Überwindung von Analphabetismus gelobt. Freire erhielt eine Professur in Harvard, wurde Berater für Bildungsfragen beim Weltkirchenrat in Genf. Weltweite Institutionen wie die internationale Arbeitsorganisation ILO, die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO in Rom suchten die Expertise des Brasilianers. In Südafrika ließen sich Apartheidsgegner wie Steve Biko von Freire inspirieren.

1980 konnte Freire in seine Heimat zurückkehren, wo er an den Katholischen Universitäten in Sao Paolo und Campinas lehrte. Zwar war er als Katholik religiös, hatte sich aber von der damaligen Kirche de facto entfernt. Seine Inspiratoren waren Erich Fromm, Karl Jaspers, Jean-Paul Sartre, Martin Buber, Noam Chomsky - und Karl Marx. Wobei Freire Linken oft vorwarf, sie übernähmen die Methoden der Rechten.

"Pädogogik der Unterdrückten"

"Nur die Macht, die aus der Schwachheit der Unterdrückten geboren wird, ist stark genug, beide - Unterdrücker und Unterdrückte - zu befreien", schrieb Freire in der "Pädagogik der Unterdrückten". Formulierungen, die an den Apostel Paulus und seine Rede von der Stärke der Schwachheit erinnern. Und so entdeckten irgendwann Befreiungstheologen Parallelen zwischen sich und Freire.

Paulo Evaristo Arns, der Erzbischof von Sao Paulo, gewann den Pädagogen für gemeinsame Bildungsprojekte. In denen ging es Freire stets um mehr als Lesen und Schreiben. Analphabeten, so seine Erfahrung bei Besuchen und Gesprächen, waren auch arm und unterdrückt. Also galt es, ein kritisches Bewusstsein der eigenen Lebenssituation zu entwickeln und die verbreitete Passivität aufzubrechen.

Mehr als nur Lesen und Schreiben

Allerdings, so zeigte sich mit der Zeit, waren die Erfolgsquoten für Freires Alphabetisierungsprogramme auf dem Land höher als in den Favelas der Großstädte. Dort sind Frust und Passivität offenbar größer, lähmen oft Drogen und Gewalt den persönlichen Ehrgeiz der Menschen. Dennoch verzeichneten die Teams fulminante Erfolge: Binnen 30 und 40 Tagen lernten Menschen so lesen und schreiben.

Paulo Freire starb am 2. Mai 1997 in Sao Paulo. Den Ehrendoktor des Fachbereiches Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg konnte er nicht mehr annehmen. Zehn Jahre nach seinem Tod nahm die Unesco unter dem Titel "Collection Educator Paulo Freire" Dokumente von ihm in die Liste des Weltdokumentenerbes auf.

Autor: Roland Juchem (kna)

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