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Chile vor den Wahlen zum Verfassungskonvent

Es ist ein historisches Ereignis: Zum ersten Mal in der Geschichte Chiles wird demokratisch eine Versammlung gewählt, um die Verfassung auszuarbeiten. Sie wird zu 50 Prozent aus Frauen bestehen und hat Sitze für die indigenen Völker reserviert. 

Das Wandbild in der Hauptstadt Santiago de Chile zeigt die Demonstrationen für kostenfreie Bildung im Jahr 2013 - ein Thema, dem sich auch die Verfassunggebende Versammlung widmen soll. Foto: Adveniat/Jürgen Escher

Das Wandbild in der Hauptstadt Santiago de Chile zeigt die Demonstrationen für kostenfreie Bildung im Jahr 2013 - ein Thema, dem sich auch die Verfassunggebende Versammlung widmen soll. Foto: Adveniat/Jürgen Escher

"Asamblea Constituyente", eine Verfassungsgebende Versammlung, ist auf vielen Mauern in Chiles Hauptstadt Santiago zu lesen. Es sind Überreste der Proteste von 2019 und 2020, die dazu geführt haben, das in diesem Jahr eine neue Verfassung ausgearbeitet wird. Gewählt wird an diesem Samstag und Sonntag ein Verfassungskonvent, der aus 155 Mitgliedern bestehen wird. Für viele ist der Konvent aber keine Verfassungsgebende Versammlung, weil er abgesehen von der Wahl seiner Mitglieder keine Mechanismen zur demokratischen Teilhabe der Bevölkerung am verfassungsgebenden Prozess vorsieht.

Kritik: Mangelnde Bürgerbeteiligung

"Uns ist klar, dass dieser Prozess nicht dem Willen des Volks entspricht, weil der Verfassungskonvent keine Verfassungsgebende Versammlung ist", sagt die 38-jährige Anwältin Jessica Cayupi. Sie wurde von der Organisation Red de Mujeres Mapuche (Netzwerk von Mapuche-Frauen) als Kandidatin gewählt und tritt im Wahldistrikt 9 in der Hauptstadt Santiago an. "Trotz aller Hürden haben wir beschlossen, teilzunehmen, weil wir wollen, dass unsere Stimme in der ganzen Welt gehört wird."

Die Wahl der 155 Mitglieder des Verfassungskonvents läuft nach den gleichen Regeln ab wie die Parlamentswahlen. Das bedeutet, dass in 28 Wahldistrikten proportional zur Bevölkerungsanzahl Volksvertreter und -vertreterinnen gewählt wurden. Um die Sitze zu verteilen, wurde das D’Hondt-Verfahren verwendet, das große Parteien bevorzugt. Die politischen Parteien befinden sich jedoch in einer Krise: Umfragen zufolge liegt das Vertrauen in sie bei nur zwei Prozent. "Die politischen Parteien haben heute keinerlei Legitimität. Unsere Liste kommt von unten, von der Basis und das ist unser einziges Mandat", sagt Cayupi. "Wir wollen diesen Prozess transformieren, damit die neue Verfassung die Bevölkerung repräsentiert und nicht eine kleine Minderheit." 

Indigene Völker bislang verfassungsrechtlich nicht anerkannt

17 der 155 Sitze des Verfassungskonvents sind für die zehn indigenen Völker reserviert, die in Chile leben und bisher nicht in der Verfassung anerkannt sind. Chile, Uruguay und Suriname sind die einzigen Länder in Südamerika, die die indigenen Völker in der Verfassung nicht anerkennen.

Ingrid Conejeros, die für einen der sieben Sitze kandidiert, die für das Volk der Mapuche reserviert sind, geht es um weit mehr als die Anerkennung: "Als erstes brauchen wir die Anerkennung in der Verfassung und dann brauchen wir Reparationen. Wir fordern Mechanismen, die die Rückgabe unserer Territorien ermöglichen. Das sollte eine Verpflichtung des chilenischen Staats gegenüber dem Volk der Mapuche sein", sagt sie. Ein Großteil des Territoriums der Mapuche wurde vom chilenischen Staat gewaltsam enteignet und anschließend an europäische Einwanderer und an Forstunternehmen verkauft oder verschenkt. 

Conejeros ist interkulturelle Grundschullehrerin und Menschenrechtsaktivistin. Sie wurde in Santiago geboren, nachdem ihre Eltern auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gezogen waren. Jetzt lebt sie in Temuco in der Araucanía-Region und will im Verfassungskonvent für die Rechte der Mapuche kämpfen, sowohl derjenigen, die in der Stadt wohnen, als auch derer, die in traditionellen Gemeinden leben. 

Mapuche fordern plurinationalen Staat

Mit der neuen Verfassung sollte der chilenische Staat als plurinationaler Staat konstituiert werden, fordert Conejeros. "Diese Plurinationalität soll den Völkern Rechte garantieren: das Recht auf Land, auf Wasser, auf Wohnraum, auf interkulturelle Bildung, auf interkulturelle Gesundheitsversorgung", erklärt sie weiter. Als Vorbilder gelten Bolivien und Ecuador.

Nicht alle indigenen Kandidaten treten für die reservierten Sitze an. Jessica Cayupi hat sich dagegen entschieden. "Wir Mapuche, die in der Stadt leben, werden bis heute diskriminiert. Die Hälfte der Mapuche leben in der Zentralregion, aber hier wurde uns nur ein einziger Sitz zugeschrieben" erklärt sie. Deshalb tritt sie gemeinsam mit einer Liste sozialer Bewegungen an. "Wir wollen das vorherrschende Paradigma in Chile verändern: Das neoliberale, kapitalistische, individualistische und patriarchale Paradigma", sagt Cayupi.

Das neoliberale Modell ist in der aktuellen Verfassung verankert, die 1980 während der Pinochet-Diktatur ohne demokratische Mindeststandards verabschiedet wurde. Sie räumt privaten Unternehmen mehr Rechte ein als den Bürgerinnen und Bürgern und verhindert strukturelle Reformen. 1990 dankte Pinochet zwar ab, aber sein Erbe wirkt bis heute nach. Fast alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge sind privatisiert und die soziale Ungleichheit ist ins Unerträgliche gewachsen.

Hoffnung auf öffentliche Bildung und Gesundheit

Zu den Forderungen der sozialen Bewegungen für die neue Verfassung gehören deshalb eine staatliche Rentenversicherung, ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem, eine öffentliche Trinkwasserversorgung, Schutz von Menschenrechten, indigenen Völkern und der Natur sowie mehr demokratische Teilhabe.

Cayupi ist eine von 17 Kandidatinnen im ganzen Land, die der "Feministischen Plurinationalen Verfassungsplattform" angehören. Der chilenische Verfassungskonvent wird der erste der Welt sein, der zu 50 Prozent aus Frauen besteht. Aber die Perspektive der feministischen Kandidatinnen geht über die gleiche Verteilung der Sitze hinaus. "Wir Mapuche-Frauen erleben viele Formen von Gewalt. Wir fühlen uns als Teil der Mutter Erde und jede Gewalt gegen sie ist auch eine Gewalt gegen uns", sagt Cayupi. "Wir wollen, dass die Verfassung die Rechte der Mutter Erde beschützt, die Rechte der indigenen Völker und die Rechte der Frauen."

Kandidaten der sozialen Bewegungen setzen sich dafür ein, dass der Verfassungskonvent verbindliche Mechanismen zur Bürgerbeteiligung während des verfassungsgebenden Prozesses garantieren soll. "Diejenigen, die gewählt werden, sind nur Sprachrohre des Volkes. Die Verfassung darf nicht nur von den 155 Mitgliedern des Konvents geschrieben werden, sondern die Bürgerinnen und Bürger müssen aktiv eingebunden werden", sagt Cayupi. Nur so könne garantiert werden, dass die neue Verfassung die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert.

Autorin: Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

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