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Chile: Die historische Chance ergreifen

Chiles Bevölkerung macht trotz Pandemie Werbung für das Plebiszit am Sonntag. Die Zustimmung zu einer Verfassungsänderung gilt als sicher.

Chile, Verfassungsreform, Apruebo

Befürworter einer Verfassungsreform werben in der Hauptstadt Santiago de Chile um Zustimmung: "Apruebo" - "Ach stimme zu" steht auf dem Transparent. Foto: Klaus Ehringfeld

Was braucht es, um in Zeiten einer Pandemie, politische Kampagne zu machen? Für Lore López und ihre Freunde nicht viel mehr als eine Brücke, einen Sonnenuntergang, ein Megafon, Lautsprecherboxen, Musik, Fahnen, Halstücher, Transparente und große Buchstabentafeln. Es ist Dienstag, 18.30 Uhr, noch fünf Tage bis zum Verfassungsreferendum in Chile. López, Anthropologin an der Universität von Chile und wie sie sagt, „von Anfang an bei den Protesten des vergangenen Jahres dabei“, hat mit rund 50 Freundinnen und Freunden Stellung auf einer Brücke in Santiagos Stadtteil Providencia bezogen. 
 
Die Gruppe stellt sich längs der Brücke auf, wedelt mit den Fahnen, hält Halstücher in die Höhe. Von der Schnellstraße und der Radpiste unten hupen Autos im Takt, recken Radfahrer die linke Faust in die Höhe. Hin und wieder quert ein Passant die Brücke, schaut interessiert und belustigt, mancher hebt den Daumen zur Zustimmung. Dann ganz schnell stecken die Aktivisten in sicherer Choreographie große Buchstabentafeln zu einem A-P-R-U-E-B-O zusammen. „Ich stimme zu“. 
 
Es ist das Motto der großen Mehrheit der Chilenen, die am Sonntag beim Plebiszit für die Abschaffung der 30 Jahre alten und noch aus Diktatur-Zeiten stammenden Verfassung stimmen wollen. Ein Fotograf der Gruppe hält die Aufstellungen, die fast einer theatralen Installation gleichen, für das Internet und die sozialen Netzwerke fest, wohin sich ganz viel der politischen Kampagne verlegt hat.

Es geht um eine gerechte Gesellschaft

„Wir mussten uns ganz neue Formen der Kampagne ausdenken“, sagt die 45-jährige López, die mit ihrer Gruppe „#QueChiledecida“ (Chile soll entscheiden) wie andere Aktivisten auch seit dem Corona-Ausbruch im Land Mitte März völlig hat umdenken müssen. „Bis dahin sind wir von Haus zu Haus gegangen und haben den Menschen erzählt, um was es am 25. Oktober geht: um ihre fundamentalen und sozialen Rechte, eine gerechte Gesellschaft, ein besseres und vor allem bezahlbares Leben.“ Aber plötzlich war alles vorbei. 
 
„Viele Menschen haben jetzt Angst, mit uns zu reden, fürchten die Nähe. Daher stellen wir uns an U-Bahn-Stationen, hängen uns Plakate um, auf denen wir versuchen zu erklären, um was es geht“, ergänzt López. Aber wer Fragen stellt, bekommt auch Antworten. Immer mit Mundschutz natürlich. „An den Wochenenden gehen wir auch auf die Märkte, da bleiben die Menschen schon häufiger mal stehen und wollen diskutieren.“ 

Online-Kampagne wegen Corona-Pandemie

Ansonsten aber findet die Kampagne überwiegend virtuell statt. Es gibt Online-Kurse, die den Menschen erklären, was in der aktuellen Magna Charta steht. Theatergruppen führen im Netz Stücke auf, welche die schweren Auseinandersetzungen und Menschenrechtsverletzungen des vergangenen Jahres aufarbeiten. 
 
Die Politik hat in Chile in diesen Tagen alle gesellschaftlichen Schichten durchdrungen. Selbst Spielerinnen der Frauen-Fußballnationalmannschaft machen Kampagne für den „Apruebo“. Überhaupt haben Frauen und die feministischen Kollektive im Besonderen die Proteste des vergangenen Jahres getragen. Während die Apruebo-Befürworter sich sehr kreativ zeigen, sind die Anhänger des „Rechazo“, der Ablehnung eines neuen Grundgesetzes, vor allem in bezahlten Spots in den Medien und samstäglichen Demonstrationen durch die Oberschicht-Viertel aktiv. 

Neoliberales Gesellschaftsmodell ist gescheitert

Die Abstimmung Pro oder Contra der aktuellen Verfassung ist der vorläufige Schlusspunkt eines Prozesses, der am 18. Oktober 2019 praktisch aus dem Nichts begonnen hat. Damals löste eine Preiserhöhung von 800 auf 830 Pesos, umgerechnet drei Eurocent, für ein U-Bahn-Ticket einen Furor auf Regierung und das neoliberale Gesellschaftsmodell aus und stürzte Chile in eine soziale und letztlich auch eine Identitätskrise. 
 
Monatelange Proteste Hunderttausender, brutale Repression der Polizei, mehr als 20 Tote folgten. Präsident Sebastián Piñera tauschte seine Minister am Fließband aus, sagte das Gipfeltreffen des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums APEC Mitte November und die Weltklimakonferenz COP25 Anfang Dezember ab. Auch das Finale der kontinentalen Fußball-Meisterschaft „Copa Libertadores“ musste woanders ausgetragen werden. Die Zustimmung für den rechten Präsidenten und seine Regierung fiel im In- und Ausland auf historische Tiefstände. 
 
Dabei galt Chile zuvor lange Jahre als stabiles Erfolgsmodell in Lateinamerika. Kaum jemand sah, dass der Aufstieg auf einem Sozial- und Wirtschaftssystem basierte, das niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten, ein gewinnorientiertes Bildungs- und Gesundheitssystem sowie privatisierte Pensionskassen bedeutet und das für viele Menschen längst unerschwinglich ist. Ein Modell, das aus den Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 bis 1990) stammt und das in der Verfassung von 1980 verankert wurde, um die jetzt so bitter gestritten wird. Chile war Versuchslabor der Chicago-Boys um den Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman. Er verwandelte Chile in ein neoliberales Paradies, in dem die Privatwirtschaft alle Rechte, aber kaum Pflichten hat, Ressourcen nach Belieben ausbeuten darf und in dem sogar das Wasser privatisiert ist. 

Zustimmung zur Verfassungsänderung gilt als sicher

Es geht also um viel. Corona hin oder her. Die Chilenen lassen sich von der Pandemie nicht unterkriegen. „Das ist ein historischer Moment“, sagt López. Und diesen Satz hört man in diesen Tagen eigentlich von jedem, mit dem man in dem kleinen und schmalen Land am Rande Südamerikas spricht. Erstmals hat ein Volk gegen den Widerstand der politischen Elite und trotz heftiger Repression durchgesetzt, dass das gesellschaftliche Fundament neu gelegt wird. 
 
Die Frage ist nicht ob der „Apruebo“ gewinnt, die Frage ist nur, wie groß der Abstand zum „Rechazo“ sein wird. „Wichtig ist, ob es 70 oder 80 Prozent Zustimmung sind, wie hoch die Wahlbeteiligung ist, die in Chile in den vergangenen Jahren gerade bei rund 40 Prozent lag“, sagt Camila Miranda, Direktorin des Thinktanks „Fundación Nodo XXI“. „Je höher beide Indizes, desto größer wird der Druck auf die politische Klasse sein, auch wirklich Veränderungen umzusetzen“, unterstreicht Miranda im Gespräch.
 
Denn noch ist nicht klar, wie sich die Verfassunggebende Versammlung zusammensetzt und wer an der neuen Magna Charta mitschreiben darf. „Daher wird der 25. Oktober erst der Anfang eines neuen langen Prozesses sein“, sagt Miranda voraus. Und wie sie, wissen Zehntausende Chilenen, dass nur mit der Aufrechterhaltung des Protestes auf den Straßen letztlich wirkliche Veränderungen erreicht werden können. 

Autor: Klaus Ehringfeld, Chile

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