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Brasiliens Demokratie in Schockstarre

Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro haben den Kongress in Brasilia gestürmt. Sicherheitskräfte eroberten Parlament, Regierungssitz und Obersten Gerichtshof zurück. Dennoch ist die Stabilität des größten Landes in Lateinamerika ist in Gefahr. 

Der Nationalkongress in Brasilia: Die Demonstranten schlugen die Scheiben der Fassade des Kongressgebäudes ein und drangen in die Eingangshalle ein. Foto (Symbolbild): Adveniat/Jürgen Escher

Der Schreck stand dem Präsidenten ins Gesicht geschrieben. Der Kopf rot, der Blick ungläubig. Man merkte, dass die Vorkommnisse in Brasilia auch den erfahrenen Politiker Lula da Silva ins Mark trafen und er darüber fast die Fassung verlor. Als er sich am Sonntagabend gefasst hatte, setzte er seine Brille auf, ließ sich das Mikrofon halten und setzte zu entscheidenden Sätzen an: 

„So etwas hat es in der Geschichte Brasiliens noch nie gegeben“, sagte der linksliberale Präsident, der gerade erst seit einer Woche amtiert. Eine derartige Verachtung der Demokratie und der drei Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative sei einmalig. Lula, den der Sturm auf Kongress, Regierungssitz und Obersten Gerichtshof in der Hauptstadt Brasilia auf einer Reise durch den Bundesstaat São Paulo rund eintausend Kilometer entfernt ereilte, nannte die Täter „Vandalen“ und „Faschisten“. Und er versprach, sie mit der Härte des Gesetzes zur Verantwortung zu ziehen. 

Sturm auf die Demokratie

Am Sonntag erfüllten sich die schlimmsten Befürchtungen der brasilianischen Demokraten, ein Déjà-vu des Sturms auf den US-Kongress am 6. Januar 2021, der Versuch also, einen verfassungsgemäßen und rechtmäßig erreichten Amtswechsel zu verhindern. Jair Bolsonaro, Lulas rechtsradikaler Vorgänger, hatte mit seinem Diskurs des systematischen Angriffs auf das Wahlsystem und die Wahlbehörden die Grundlagen für die Tausenden radikalen Anhänger gelegt, die am Sonntagnachmittag zum Sturm auf die Demokratie im größten und wichtigsten Land Lateinamerikas ansetzten. Bolsonaro hatte bis zuletzt zu Protesten gegen das Wahlergebnis aufgerufen. Daher warf Lula seinem Vorgänger am Sonntag auch direkt vor, zu der „Invasion der drei Gewalten“ angestachelt zu haben. Bolsonaro hatte in dem erbitterten Wahlkampf immer wieder mit einem Vergleich mit dem Kapitol-Sturm in den Vereinigten Staaten kokettiert und behauptet, das brasilianische Volk werde sich „die Wahl nicht stehlen lassen“.

Bis 19 Uhr Ortszeit benötigten die Sicherheitskräfte, um die Sitze von Parlament, Regierungssitz und Oberstem Gerichtshof zurückzuerobern. Bis zum späten Abend waren rund 260 Vandalen festgenommen. Aber der Sturm auf die Institutionen der Demokratie wird noch lange nachwirken und mindestens die kommenden Monate das Land und seine 215 Millionen Einwohner in Atem halten. Und es zeigt sich jetzt, dass der hart erkämpfte und äußerst knappe Wahlsieg Lulas vor gut zwei Monaten wohl die leichtere Aufgabe war, verglichen mit dem, was den Präsidenten in den kommenden vier Jahren als Staatschef erwarten wird. 

Die größte Demokratie Lateinamerikas ist ernsthaft in Gefahr. Der 77-Jährige Lula und seine Regierung brauchen jetzt die Unterstützung aller Demokratien der Region und die anderer großer Staaten, um die Unsicherheit der kommenden Wochen zu überstehen. Die Aggressoren vom Sonntag sind zwar nur die kleine Minderheit der Bolsonaro-Adepten, die in ihrer eigenen Welt leben und Gewalt als ein legitimes Mittel erachten. Aber dennoch hat vor gut zwei Monaten fast die Hälfte der Brasilianerinnen und Brasilianer Bolsonaro gewählt. Das südamerikanische Riesenland ist tief zerrissen. Der Demokratieverächter Bolsonaro hatte die Abstimmung gegen den zweimaligen Ex-Präsidenten Lula mit dem knappsten Ergebnis in der Geschichte Brasiliens verloren. Er unterlag seinem Herausforderer mit 49,1 Prozent. Der Unterschied zu Lula betrug gerade einmal zwei Millionen Stimmen. Fast die Hälfte der Brasilianerinnen und Brasilianer steht auf der Seite des Rechtsradikalen, die andere Hälfte hält Lula die Treue.

Prüfung der Sicherheitskräfte

Erst in den kommenden Tagen wird sich zeigen, wie dieser offenbar koordinierte Sturm von mehr als tausend Angreifern möglich war. Es gab sicher Duldung von Polizeikräften, möglicherweise sogar Kooperation. Als die Randalierer den Kongress stürmten, leisteten nur wenige Polizisten Widerstand. Laut Medienberichten griffen einige Polizisten nicht einmal ein und filmten den Angriff stattdessen mit ihren Mobiltelefonen. Wichtig ist auch die Frage, ob Bolsonaro aus den USA, wohin er vor dem Ende seines Mandats geflüchtet war, den Angriff auf die drei Gewalten zumindest mit geplant hat. 

Mehr als sechs Stunden nach der Erstürmung der Regierungsgebäude meldete sich der Ex-Präsident mit einem nahezu indifferenten Tweet aus den USA zu Wort. „Friedliche Demonstrationen, die im Einklang mit dem Gesetz stehen, sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Übergriffe auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben…., fallen jedoch nicht unter diese Regelung". Bolsonaro lebt seit Ende Dezember in Florida, nachdem er 48 Stunden vor Lulas Amtseinführung das Land verlassen hatte.

Klar ist jedenfalls, dass Lula die Streitkräfte, die Militär- und Bundespolizei, die Präsidentengarde und die Polizei des Bundesdistrikts, die für die öffentliche Sicherheit in der Hauptstadt zuständig ist, einer genauen Prüfung unterziehen muss. Noch ist nicht klar, ob oder wie weit sie der neuen Regierung loyal gegenüber sind. Noch am Sonntagabend unterstellte Lula den Sicherheitsapparat des Bundesdistrikts direkt dem Präsidialamt, nachdem Einheiten am Sonntag die Aggressoren von ihrem Camp in das Regierungsviertel eskortiert hatten. 

Autor: Klaus Ehringfeld

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