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Kindersoldaten in Kolumbien - Wie die Guerilla die Pandemie zur Zwangsrekrutierung nutzt

In Kolumbien nutzen Guerillaorganisationen das Chaos der Corona-Pandemie, um Kinder für ihren Krieg zu rekrutieren. Sie locken mit verheißungsvollen Versprechungen vom besseren Leben als Guerillero, doch die Realität sieht deutlich anders aus.

In Kolumbien nutzt die Guerilla die Coronakrise, um Kinder zu rekrutieren. Foto: Jürgen Escher/ Adveniat

Was Hector Fabio Idrobo in diesen Wochen der Pandemie sieht und hört, ist selbst für den erfahrenen Ombudsmann von Toribío ungewohnt. Idrobo erzählt von Männern in zivil und in Uniform, die im Zentrum der 30.000-Einwohner-Gemeinde in den kolumbianischen Bergen Jungen und Mädchen ansprechen, Geschenke machen, Einladungen verteilen: „Sie nähern sich meist den Jüngsten, schenken CDs oder Videos, verwickeln sie in Gespräche“, berichtet Idrobo am Telefon. „Wenn sie von der Guerilla sind, dann erzählen sie von Waffen und vom spannenden Leben in den Bergen“. Wenn sie von den Drogenkartellen seien, dann köderten sie die Heranwachsenden mit Geld. „Und so verdrehen sie den Jungs und Mädchen den Kopf, die oft aus armen und vielfach auch dysfunktionalen Familien stammen.“

„Zunächst treten sie als Freunde auf“, weiß der Ombudsmann aus Erzählungen. In einem zweiten Schritt laden sie die Kids dann in die Camps ein, präsentieren ihre Waffen, halten ihnen Vorträge. „Und ehe sie sich versehen, stecken sie dann selbst in Uniformen“. 

Rekrutierungsoffensive während Corona

Dass die bewaffneten Gruppen versuchten, Nachwuchs bei Jugendlichen und Kindern zu suchen, habe es in Toribío schon immer gegeben, unterstreicht Idrobo. Aber so offensiv wie jetzt, seit Kolumbien in Corona-Quarantäne liegt, hätten sie noch nie rekrutiert, unterstreicht der 37-Jährige, der bereits von 2013 bis 2016 Ombudsmann in dem Ort war und es seit ein paar Monaten wieder ist. In seinem Job als Bürgeranwalt ist er auch der Kummerkasten der Bevölkerung, und die Menschen erzählen ihm vertraulich, wie ihre Kinder einfach „in die Berge“ gehen oder wie die Guerilla die Kinder einfach mitnimmt. 

Toribío liegt im südwestlichen Departement Cauca und ist ein strategischer Ort im komplexen kolumbianischen Gewaltpanorama. Das Cauca ist eines der größten Koka- und Marihuana-Anbaugebiete des Landes, verfügt über reichlich Mineralien, Wasser und Kohle. Zudem ist die Region ein wichtiger Korridor zur Pazifikküste. Kurzum: Das grüne und bergige Departement ist wie eine Blaupause der Probleme Kolumbiens: Drogenschmuggel, Illegaler Bergbau, Landraub, Vertreibung. Und neben Linksrebellen mischen dort paramilitärische Gruppen, Drogenschmuggler und gewöhnliche Kriminelle mit. „Und wir liegen mittendrin“, seufzt Idrobo. 

Fehlender Schutz für Kinder 

Aber nationale Kinderschutzorganisationen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die Vereinten Nationen sehen zunehmende Zwangsrekrutierungen Minderjähriger im ganzen Land. Regionale Konflikte flammten vielerorts wieder auf würden begleitet von einer Rekrutierungsoffensive aller Gruppen. Besonders im Fokus dabei: Kinder und Jugendliche, weil sie von allen illegalen Akteuren als Spitzel, Kuriere und als Kämpfer eingesetzt werden. 

Und da kommt die Corona-Pandemie gerade zur Unzeit. 

Denn jetzt falle die Schule als Schutzraum aus, in dem die Lehrer auch als Sozialarbeiter fungierten und die Kinder auf die Gefahren hinwiesen, sagt Julia Castellanos von der „Beobachtungsstelle für Kindheit und Bewaffneten Konflikt“ (ONCA), einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Bogotá. Zudem werden die Mädchen und Jungen in den Schulen auch mit Essen versorgt und außerhalb der Unterrichtsstunden betreut. Doch in der Corona-Quarantäne seien Heranwachsende oft auf sich allein gestellt, öfters zuhause, langweilten sich. Das nutzen die bewaffneten Gruppen. So zählte Castellanos’ Beobachtungsstelle zwischen Januar und April 128 Fälle von Zwangsrekrutierung von Kindern, mehr als doppelt so viel wie im gesamten vergangenen Jahr. Die Dunkelziffer wird um ein vielfaches höher geschätzt. 

Kinderschutzorganisationen berichten aus anderen Regionen Kolumbiens von neuartigen Modi operandi in Pandemie-Zeiten. Im Departement Norte de Santander an der Grenze zu Venezuela etwa laden die bewaffneten Gruppen über die sozialen Netzwerke zu Festen ein, wo sie die Jungen und Mädchen anwerben. Die ELN-Guerilla setzt in den von ihr dominierten Gebieten wie dem südlichen Departement Nariño 14-Jährige dazu ein, um die Ausgangs- und Straßensperren zu sichern, die von der Guerilla im Kampf gegen Covid-19 verhängt wurden. 

„Objekte, über die man verfügen kann“

Kinder seien weit mehr als nützliche kleine Kämpfer, sagt der Politologe David Santos. „Sie erfüllen für die illegalen Akteure viele nützliche Funktionen, sind form- und beeinflussbar, kosten weniger als Erwachsene,“ zählt Santos auf, der mehrere Jahre als Berater für die Regierung von Ex-Präsident Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) zum Thema Kinder und Konflikt tätig war. Die Zwangsrekrutierten verrichteten Hilfsdienste in den Camps, Mädchen würden oft Opfer sexueller Ausbeutung. „Die Jüngsten, die schon zum Teil mit acht Jahren rekrutiert werden, arbeiten als Späher oder verkaufen Rauschgift an der Schulen.“ Bei der Guerilla würden sie erst ab 16 Jahren an den Waffen eingesetzt. Die Drogenkartelle hingegen bildeten die Jungen deutlich früher schon zu Killern aus und Handlangern etwa bei Entführungen. 

Laut Miguel Ceballos, Friedensbeauftragter der kolumbianischen Regierung, haben die bewaffneten Gruppen in den vergangenen 20 Jahren rund 14.000 Mädchen und Jungen zwangsrekrutiert. Hauptverantwortlich waren dafür die FARC. Derzeit hätten vor allem die ELN-Guerilla und die FARC-Dissidenz sowie das Drogenkartell „Clan de Golfo“ die meisten Heranwachsenden in ihrer Gewalt.  

Historisch seien Kinder in Kolumbien „Objekte, über die man verfügen kann“, erklärt David Santos. Als Subjekte mit eigenen Rechten seien sie erst durch das Kinderschutzgesetz von 2006 anerkannt. Gerade wegen dieser historischen Verwurzelung sei das Problem schwer zu lösen. Santos kritisiert die aktuelle Regierung. „Staatschef Iván Duque setzt wieder auf Krieg im Kampf gegen die Guerillas. Darunter leiden besonders die Kinder“. Auch Julia Castellanos von der Beobachtungsstelle ONCA sieht den Staat in der Pflicht. Die strukturellen Probleme Kolumbiens wie Armut, fehlende soziale Infrastruktur auf dem Land und Armut müssten endlich gelöste werden. „Sie machen die Heranwachsenden zu einer leichten Beute für die bewaffneten Gruppen.“ 

Kindersoldaten
Wenn Sie mehr über die Kindersoldaten der ELN-Guerilla in Kolumbien erfahren möchten, dann finden zu diesem Thema die Reportage "Teenager unter Waffen" in der Ausgabe 01/2018 von Blickpunkt Lateinamerika. Hier geht es Onlineausgabe.

Autor: Klaus Ehringfeld 

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