Jeden Tag ein Mord - Femizide in Guatemala
161 Femizide in vier Monaten, 20.000 Anzeigen wegen körperlicher Gewalt: In Guatemala haben Attacken gegen Frauen einen traurigen Höhepunkt erreicht.
Luz María hatte ihren Traumjob schon gefunden. Mit gerade einmal 25 Jahren fing sie bei der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft an. Ihre Hauptaufgabe als Kriminalistin: Fotos zu schießen von Opfern von Gewaltverbrechen und den Tatorten. Die Mutter einer einjährigen Tochter sagte immer, ihre Arbeit gebe den Menschen eine Stimme, denen man das Leben gestohlen hat.
Luz María stahl man das Leben Mitte Januar. Arbeiter der Müllabfuhr fanden ihren Körper, eingepackt in Plastik, am Rande eines Kanals in Guatemala-Stadt. Ihr Partner sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Immer wieder hatten die Nachbarn die lauten Schreie Marías gehört, wenn er auf sie einprügelte. Niemand hielt es für nötig, die Polizei anzurufen. Stattdessen schickten sie Marías Mutter später anonym einen Tonmitschnitt, in dem ihre Tochter um Hilfe flehte.
Luz María war das prominenteste Opfer der vergangenen Wochen, in einem Land, in dem es schon ein Risiko ist, einfach nur eine Frau zu sein. Befeuert durch die Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Pandemie erreichen die Femizide immer neue, traurige Höchstwerte. Jeden Tag fällt ihnen mindestens eine Frau zum Opfer. Für viele Guatemaltekinnen gilt: Überleben ist wichtiger als leben.
Kann oder will Guatemala seine Frauen nicht schützen?
Silvia Trujillo ist in Uruguay geboren, in Argentinien aufgewachsen, aber zur Feministin ist sie erst in Guatemala geworden, sagt sie, ihrer Wahlheimat seit 20 Jahren. Seitdem arbeitet die Soziologin auch als Editorin bei "La Cuerda", einem Internet-Portal mit einer "feministischen Sicht auf die Realität", wie es auf der Homepage heißt. Sie sagt: "Wir leben hier in einem Staat, der unfähig ist, seine Frauen zu schützen, und dem es auch am politischen Willen dazu fehlt. Dazu kommt eine Gesellschaft, die durch den Machismo so sozialisiert ist, Gewalt an Frauen nicht anzuzeigen."
161 Femizide in diesem Jahr, mehr als 20.000 Anzeigen wegen körperlicher Gewalt gegen Frauen, darunter fast 3.000 Vergewaltigungen. Konsequenzen müssen die Täter allerdings nicht fürchten. Weniger als drei Prozent von ihnen landen, so die Statistiken der vergangenen Jahre, wegen sexueller Gewalt tatsächlich hinter Gittern. "Die Botschaft, die Du damit an die Gesellschaft sendest, ist: 'Du kannst hier alles machen, es gibt keinerlei Konsequenzen'. Und das führt zu einer Straflosigkeit, die entsetzlich ist", sagt Trujillo.
Lautstarke Proteste gegen Femizide und sexuelle Gewalt
Doch es tut sich gerade etwas in Guatemala. Viele Frauen haben genug davon, Freiwild zu sein und jeden Tag um ihr Leben fürchten zu müssen. Hinter der Kampagne "Tengo Miedo" ("Ich habe Angst") versammelten sich Anfang März Tausende Guatemaltekinnen und gingen gegen sexuelle Gewalt auf die Straße. "Mehr als ein Land ist dies ein Friedhof", stand auf einem den Plakate, die Frauen riefen: "Mich schützen meine Freundinnen, nicht die Polizei." Doch es sagt ziemlich viel über Guatemala aus, dass eine Initiatorin der Kampagne, die in der öffentlichen Verwaltung arbeitet, kurz darauf gefeuert wurde.
"Hier herrscht immer noch die sexistische Einstellung, dass Frauen zum Beispiel nicht in der Lage seien, Entscheidungen zu treffen", kritisiert Silvia Trujillo, "deswegen verdienen sie ein Viertel weniger als ihre männlichen Kollegen und von den 340 Bürgermeistern in Guatemala sind ganze zehn Frauen."
Auf Abtreibung steht Gefängnis – selbst bei einer Vergewaltigung
Auch Carmen Quintela will das ändern. Die spanische Journalistin landete vor acht Jahren in Guatemala, heute gehört sie mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern von "Ocote" zum Team des wichtigsten unabhängigen Nachrichtenportals des Landes. Das Medium deckte jüngst die Vergewaltigung einer Frau durch zwei Polizisten auf, die sie zuvor um Hilfe gerufen hatte.
"Gewalt gegen Frauen ist hier Alltag, es ist normal, niemand ist hier überrascht, wenn ein neuer Femizid ans Tageslicht kommt", sagt Quintela. "Frauen sind schon als kleine Mädchen nur Objekte, die von ihren Onkeln, ihren Großvätern oder ihren Brüdern sexuell missbraucht werden. Das Ergebnis sind Tausende Teenager-Schwangerschaften jedes Jahr." Doch selbst Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung wurden, ist es in dem erzkatholischen Land verboten, abzutreiben. Eine Gesetzesänderung wurde vor drei Jahren abgeschmettert. Ein Schwangerschaftsabbruch, in Guatemala sowieso ein Tabu-Thema, gilt weiterhin als Straftat, viele Frauen wandern dafür jahrelang ins Gefängnis.
"Misshandelte Frauen bekommen nicht die notwendige Unterstützung"
Die Politik in Guatemala, so scheint es fast, tut einiges, um längst überfällige Reformen so lange wie möglich auszubremsen. Dem so genannten Präsidialsekretariat für Frauen, das sich für Frauenrechte einsetzen soll, strich Präsident Alejandro Giammattei als eine seiner ersten Amtshandlungen vor einem Jahr erst einmal den Etat zusammen.
Und die wenigen Aufnahmeeinrichtungen für Frauen, in denen diese nach einem sexuellen Missbrauch psychologische und rechtliche Hilfe bekommen und dort für eine Weile Unterschlupf erhalten können, werden von der Regierung nur stiefmütterlich behandelt. "Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen dort oft monatelang auf ihr Gehalt warten", sagt Carmen Quintela, "und als Konsequenz kündigen dann viele von ihnen. Leidtragende sind die Opfer. Misshandelte Frauen bekommen hier in Guatemala nicht die notwendige Unterstützung."
Die spanische Journalistin kritisiert, dass Guatemala bis heute die Gewalt gegen Frauen nicht als soziales Problem begreife. Bestes Beispiel: Opfer von sexueller Gewalt können jetzt den Missbrauch anzeigen, ihnen steht eine Hotline in vier Sprachen zur Verfügung. Nur: In Guatemala gibt es einige Sprachen mehr - insgesamt 22.