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Kolumbien |

Hunger am Hang – Quarantäne in einem Armenviertel in Bogotá

Kolumbien hat die Corona-Quarantäne beendet. Doch die Monate des Lockdowns hinterlassen Wunden – vor allem in den Armenvierteln der Metropolen. Wie haben ihre Bewohner den Kampf gegen Enge und Hunger überstanden?   

Die Corona-Qurantäne in Kolumbien hat viele Bewohner in Ciudad Bolívar in Bogotá völlig unvorbereitet getroffen. Foto: young shanahanCiudad BolívarCC BY 2.0

Kürzlich, als das Rauschen der Stadt leiser war als sonst, weil sich die meisten Kolumbianer in ihren großen oder kleinen Wohnungen eingeschlossen hatten, um sich vor der tödlichen Seuche zu schützen, tat Reynel Pachón Montero etwas Verbotenes: Er ging vor die Tür, ganz ohne triftigen Grund.

Seit Kolumbiens Präsident Iván Duque am 25. März landesweite Ausgangsbeschränken verhängt hatte, sollte in vielen Vierteln niemand mehr sein Zuhause verlassen – außer, um zum Arzt oder Supermarkt zu gehen. "Fast drei Monate waren wir eingesperrt", erinnert sich Reynel während eines Skype-Gesprächs. Manchmal musste er einfach raus. Dann ging er jedes Mal zu einem Baum in der Nähe seiner Siedlung, der auf einem der Hügel liegt. Von dort aus schaute er auf sein Viertel. Er sah die bunt bemalten, kastenförmigen Häuschen mit Wellblechdächern, die wild übereinander in die steilen Hänge gebaut sind; die Stromleitungen, die lose über die erdigen, unbefestigten Straßen baumeln. 

Reynel, der kleingewachsene Student mit braunem Kinnbärtchen,  lebt mit seiner Familie in Ciudad Bolívar ­– einem der größten Armenviertel Kolumbiens im Süden der Hauptstadt Bogotá. Wie viele hier floh seine Familie in den 90er Jahren vor dem Terror der Drogenmafia und der Paramilitärs vom Land in die Stadt. Viele der Hütten in Ciudad Bolívar wurden illegal gebaut. Knapp die Hälfte der mehr als 700.000 Bewohner ist arbeitslos. Viele hangeln sich mit Gelegenheitsjobs von Tag zu Tag. 

An dem Tag, an dem Duque die Quarantäne verordnete, hatte Reynel seinen 24 Jahre Geburtstag. Für ihn genauso wie für Tausende andere in seinem Viertel begann eine Zeit der Enge und des Hungers.  

Die Enge

"Immer, wenn ich das Haus verlasse, habe ich Angst, das Virus nach Hause zu schleppen", sagt Reynel. In seinem Viertel gebe es kaum Ärzte und seine Mutter gehöre mit 60 Jahren zur Risikogruppe. Die Quarantäne verbrachte er zusammen mit ihr, seinen zwei Brüdern, seiner Schwester und mit deren fünf Jahre alten Sohn. Alle im selben Haus, das nur aus drei Zimmern besteht: einem Wohnbereich mit Kochnische, einem Bad und zwei Schlafzimmern. Mehr nicht. Reynel schickt Fotos von seinem zu Hause. Ein einfaches Wellblechdach schützt die Familie vor Regen und Sonne. Der Putz an den Wänden aus Ziegeln ist porös, als einziger Schmuck hängt an einer Wand ein expressionistisches Miniaturbild in einem vergoldeten Rahmen. "Es war ziemlich eng hier", sagt Reynel. 

An der Wohnungsgröße zeigt sich in Kolumbien die Ungleichheit, die trotz langjährigem Wirtschaftsboom noch immer extrem ist: Während in den reichsten Vierteln Bogotás durchschnittlich drei Personen auf 200 Quadratmetern unter einem Dach leben, sind es in den ärmsten sechs Personen auf 50 Quadratmetern. Während einer Pandemie bringt das eine Gefahr mit sich: Infiziert sich einer, infizieren sich alle.

Reynel erzählt davon, dass erst kürzlich zwei Migranten aus Venezuela ein paar Blocks weiter an Corona gestorben seien. Während der Pandemie entscheidet in Bogotá vor allem der Wohnort darüber, wer überlebt und wer nicht. Forscher der Privatuniversität "Los Andes" in Bogotá stellten kürzlich fest, dass in den armen Vierteln Bogotás durchschnittlich zehnmal mehr Bewohner an Covid-19 sterben, als in den wohlhabendsten Wohngegenden. Das liege vor allem daran, dass sich viele Arme den Luxus nicht leisten könnten, einfach zu Hause zu bleiben, resümieren die Macher der Studie. Wer nicht arbeiten geht, der hungert.

Der Hunger

Während der Quarantäne ist die Arbeitslosigkeit in Bogotá zwischenzeitlich auf 25,1 Prozent nach oben geschossen. Mehr als eine Million Arbeitsplätze gingen verloren. Doch vor allem die, die ohnehin keiner festen Arbeit nachgehen, die sich täglich als Müllsammler, Schuhputzer oder Straßenverkäufer verdingen, trafen die Ausgangsbeschränkungen ganz unmittelbar. Im armen Süden der Stadt sind das viele.

Reynels Bruder näht an normalen Tagen zusammen mit seiner Mutter Westen für Motorradfahrer. 3.000 Pesos gibt es für eine ­– umgerechnet rund 70 Cent. Aber nur wenn es Aufträge gibt – und die gab es nicht. "Was soll man machen, alle Geschäfte waren dicht, keine Stoffe verfügbar und niemand fuhr Motorrad", sagt Reynel. Das Einkommen der Familie brach weg, denn niemand durfte mehr raus. Reynel, der einzige in der Familie, der studiert, konnte nicht mehr zur Uni gehen. Der Vorrat an Bohnen, Reis und Nudeln schrumpfte.

Dann reagierte die Regierung: "Sie hat sich dazu entschieden, den Ärmsten auf zwei Arten zu helfen", erklärt Viviana García Pinzón, die am Giga-Institut in Hamburg zu Kolumbien forscht. Es gab Essenspakete und Geld – umgerechnet rund 80 Dollar im Monat für die ärmsten Familien, obwohl die Hilfen je nach Familiengröße stark variierten. Die Unterstützung sei wichtig und richtig gewesen, sagt García Pinzón, aber sie meint auch: "Es war für die meisten zu wenig." Die Hilfen seien zudem erst zu spät angekommen. Das größte Problem aber war: Viele Bedürftige seien außen vor geblieben. "Sie sind nicht registriert, haben kein Bankkonto oder Telefon, um die Hilfen zu beantragen", sagt die Wissenschaftlerin. Während der Quarantäne hingen deshalb viele Familien rote Tücher an ihre Häuser, um zu zeigen, dass sie Hilfe brauchten. Reynel erzählt, dass Bewohner seines Viertels Läden geplündert hätten, um ihren Hunger zu stillen. "Auch wir haben Angst. Die Sicherheitslage im Viertel hat sich seit Corona noch stark verschlechtert", sagt Reynel.

Reynels Familie hielt sich zunächst mit den kleinen Ersparnissen seiner Mutter über Wasser. Später verteilten Lastwägen der Stadtverwaltung alle ein bis zwei Wochen Kartons: Darin waren Reis, Olivenöl, Milchpulver, Schinken, Bohnen und Desinfektionsmittel. Ein Karton für die ganze Familie. „Es reichte nur für Frühstück und Abendessen, wir mussten uns ziemlich einschränken", sagt Reynel.

Auf den weißen Kartons der Regierung stand in blauen Buchstaben: "Kolumbien ist mit dir." Und: "Die Zukunft gehört allen." Reynel glaubt das nicht mehr. Die Regierung interessiere sich seiner Meinung nach mehr für Großkonzerne und sich selbst, als für die Menschen in Ciudad Bolívar: "Während wir die Krise ausbaden, will Duque 50 Millionen Dollar an Avianca zahlen." Die kolumbianische Fluggesellschaft ist pleite, die Regierung diskutiert nun, wie sie helfen kann, um Arbeitsplätze zu erhalten. Die Prioritäten bleiben Reynel dennoch rätselhaft.

Die Zukunft

Doch geht es nach der Regierung, soll die Wirtschaft schon bald wieder brummen. Das ist auch ein Grund, wieso Anfang der Woche, am 1.September, die landesweite Quarantäne nun komplett aufgehoben wurde. Zuvor hatte die Regierung die Regeln bereits mehrfach gelockert.

Bogotás grüne Bürgermeisterin Claudia López sprach von einer langsamen Rückkehr zu einer "neuen Normalität". Sie hat einen Plan angekündigt, der eine halbe Million neue Jobs in Bogotá schaffen soll. Die Landesregierung will mit Zinssenkungen und Konjunkturprogrammen das Wachstum ankurbeln. Doch die Zahlen bleiben ernüchternd: Laut einer Prognose von Bancocolombia, der größten Bank des Landes, wird die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 7,5 Prozent einbrechen und sich nur langsam erholen.

Für die ärmeren Kolumbianer wie in Ciudad Bolívar steht viel auf dem Spiel. Ein Aufschwung hatte viele tausende Kolumbianer in den vergangenen Jahren aus der extremen Armut geholt. Das ist nun in Gefahr: "Corona hat den Kampf gegen die Armut in Kolumbien um zehn Jahre zurückgeworfen", schätzt García Pinzón vom Giga-Institut. Bisher kann sie auch noch keinen langfristigen Plan erkennen, wie die Regierung das ändern will.

Reynel hat eine Idee: endlich investieren. In Gesundheit, Sicherheit, Bildung. Die Regierung solle jetzt aufwachen und endlich mehr tun für die ewig Vergessenen an den Hängen im Süden der Stadt tun. Seit den Lockerung der Regierung findet seine Familie langsam wieder zurück ins Leben: Seine Mutter arbeitet ab und an, er nimmt an Onlinekursen seiner Universität teil – wenn es die Internetverbindung zulässt. Etwas erschöpft sagt er: "Wir haben überlebt, vorerst ging alles nochmal gut!“

Autor: Julian Limmer 

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