Die faule Oase - Chiles soziales Versäumnis
Chile galt als lateinamerikanisches Musterland. Doch nun entlädt sich in den aktuellen Protesten die Wut der Bürger auf die sozialen Versäumnisse der letzten 30 Jahre. Eine Analyse.
Nach nur eineinhalb Jahren seiner zweiten Amtszeit hat Sebastián Piñera die Realität eingeholt. Denn die "Oase der Stabilität und des Wachstums“, wie Piñera Chile umschrieb, inmitten der krisengeschüttelten Wüste Lateinamerikas entpuppt sich für viele Chilenen als bloße Fata Morgana.
Das „teure“ Chile
Denn die modernen Glasfassaden im Finanzzentrum von Santiago täuschen oftmals über ein zentrales Problem hinweg: Geringe Löhne bei gleichzeitig hohen Lebenshaltungskosten treiben viele Chilenen an den Rand des finanziellen Ruins. 81 Prozent der 17 Millionen Einwohner Chiles haben Schulden.
Das ist auch nicht verwunderlich: Denn mit einem durchschnittlichen Monatslohn von umgerechnet rund 1.000 Euro gehören die Chilenen zwar zu den Topverdienern Lateinamerikas – im wesentlich ärmeren Nachbarland Bolivien stehen den Menschen im Schnitt umgerechnet nur rund 240 Euro monatlich zur Verfügung -, dennoch kämpfen vor allem Geringverdiener in Chile mit hohen Preisen. Diese sind in vielen Bereichen nicht wesentlich geringer als in Deutschland: Eine Tasse Kaffee kostet etwa drei Euro, eine große Flasche Wasser etwa einen Euro und ein Einzimmer-Apartment in Santiago im Schnitt rund 400 Euro. Gleichzeitig leben mehr als eine halbe Million Chilenen von einem Mindestlohn von gerade einmal umgerechnet 370 Euro.
Soziale Spannung
Trotz des stabilen Wachstums der letzten Dekaden sind die Reallöhne nicht ausreichend gestiegen, um die steigenden Preise auszugleichen. Somit konnte auch die enorme Kluft zwischen Arm und Reich kaum geschmälert werden. Hierin unterscheidet sich Chile nur wenig vom Rest Lateinamerikas: Das reichste ein Prozent der Chilenen besitzt rund ein Drittel aller Vermögen im Land, wohingegen 14 Prozent der Bevölkerung in Armut lebt. Auch Thomas Fischer, Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Universität Eichstätt, meint gegenüber Blickpunkt Lateinamerika: „Der Aufstieg Chiles konnte die Ungleichheit nicht abbauen. Das ist ein zentraler Part des aktuellen Konflikts: die fehlende soziale Absicherung.“
Das sei auch damit verknüpft, dass den Unternehmen in Chile kaum rechtliche Grenzen gesetzt werden. „In Deutschland gibt es etwa Tarifverhandlung, um den die Einkommen zu regulieren. In Chile gibt es kaum solche Mechanismen“, so Fischer. Dabei gilt Chile in Wirtschaftskreisen als „Musterknabe“ und Paradies für Anleger innerhalb des instabilen Lateinamerikas.
Der „Rising Star“ in Lateinamerika
Verfechter des „Neoliberalismus“ führen den Aufstieg Chiles immer wieder auf die ökonomischen Reformen zurück, die zur Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet eingeführt wurden. Damals etablierte eine Gruppe von Ökonomen - beeinflusst von dem Chicagoer Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedmann – ein System, das auf Privatisierung und Deregulierung der Märkte setzte. „Die nachfolgenden Regierungen haben nicht viel an diesem System verändert,“ meint Professor Fischer. Reformen wurden nur sehr zögerlich durchgeführt.
Und der Erfolg schien den Befürwortern dieses Systems lange recht zu geben: Das Land entwickelte sich in der Zeit nach der Diktatur an der Oberfläche prächtig. Die Wirtschaft wuchs, die Armut schrumpfte. Chile wurde zum Einwanderungsmagnet: Vor allem Menschen aus Peru und Bolivien strömten in das Nachbarland.
Laut Professor Fischer haben die Regierungen auch einiges richtig gemacht: „Chile hat im Vergleich zu vielen anderen Ländern Lateinamerikas, die nur auf ein bis zwei Exportprodukte setzen, seine Wirtschaft diversifiziert. Es wurde zu einem der wichtigsten Agrarländer und hat sich neue Sektoren, wie den Weinanbau und die Fischerei erschlossen.“
Der brüchige „Neoliberalismus“
Doch in der ersten Amtszeit von Sebastán Piñera zeigte sich, wie brüchig dieses System eines kaum staatlich regulierten Marktes in Chile ist: 2011 gingen tausende Studenten auf die Straße, sie forderten ein gerechteres Bildungssystem. Denn das Bildungsangebot ist weitgehend in privater Hand, die Studiengebühren zählen zu den höchsten im weltweiten Vergleich. Somit entscheidet oft die Größe des Geldbeutels der Familie, wer Karriere macht.
Auch die aktuelle Krise hat mit diesem Strukturproblem zu tun: „Es ist ein langjähriger Prozess. Es sind nicht nur die Preiserhöhung der Metro, die viele Chilenen bezahlen könnten. Es ist die Erfahrung von 30 Jahren Willkür, von Preiserhörungen und Privatisierung, die das Pulverfass zum Explodieren gebracht hat,“ sagt der Chilene Roberto Andrade gegenüber Blickpunkt Lateinamerika – er lebt zwar seit vielen Jahren in Deutschland, war aber während der Proteste zu Besuch in seiner Heimat. Seine Freunde und Familie hätten es satt, dass der Staat Gesundheitsversorgung, Bildung und Rentenversicherung privatisiert habe. „Es kann nicht wahr sein, dass man 45 Jahre arbeitet und am Ende umgerechnet 120 Euro Rente bekommt.“ Das ist die Mindestrente in Chile, für Menschen die nicht privat vorgesorgt haben.
Sebastián Piñera hat auf Druck der Demonstranten nun Reformen in diesen Bereichen angekündigt. Er will etwa den Mindestlohn auf umgerechnet 430 Euro erhöhen. Professor Fischer meint: „Das ist nicht genug. Das kann nur der Anfang sein. Die Regierung kämpft um ihr politisches Überleben."