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Corona-Pandemie: Brasilien fürchtet den Kontrollverlust

 

In Brasilien steigen die Infektions- und Todeszahlen mit dem Coronavirus stark an. Das Land könnte bald mehr Opfer beklagen als die USA. Präsident Jair Bolsonaro wehrt sich trotzdem gegen Beschränkungen.

Diego Vara/REUTERS

Die Corona-Lage in Brasilien spitzt sich dramatisch zu. Am Donnerstag wurden innerhalb von 24 Stunden 2207 Corona-Tote gezählt, nach 2286 Toten am Vortag. Erstmals wurden damit mehr als zweitausend Todesfälle innerhalb von 24 Stunden gemeldet. Medien senden rund um die Uhr Bilder verzweifelter Menschen, die um das Leben ihrer Angehörigen fürchten. "Extrem ernst und tragisch" nennt der brasilianische Arzt und Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis die Situation. "Es ist Brasiliens schlimmster Moment der ganzen Pandemie."

Der zuletzt sprunghafte Anstieg der Todes- und Infektionszahlen (am Donnerstag nahezu 80.000 neue Fälle) dürfte vorerst nicht zu stoppen sein, erklärt Nicolelis im Gespräch mit der DW. Der Wissenschaftler hatte zuletzt landesweite Bekanntheit mit seinen exakten Prognosen erlangt. Allen voran seine vor einigen Wochen vorausgesagten bald 3000 Toten täglich. Doch dabei habe er sich geirrt. "Das hatte ich für Ende März prognostiziert, aber jetzt dürften wir diesen Wert bereits nächste Woche erreichen - oder sogar noch früher."

Experten fürchten 3000 Tote pro Tag

Nun treffe ein, wovor Wissenschaftler seit einem Jahr bereits unermüdlich gewarnt haben. "Die Pandemie ist völlig außer Kontrolle geraten, und Voraussagen werden jetzt schwieriger, da in mehreren Gliedstaaten bereits die Gesundheitssysteme kollabieren. Der Mangel an Krankenhausbetten und besonders Intensivbetten treibt die Todeszahlen weiter nach oben." Eine exakte Prognose sei schwierig. "Aber wir könnten die Tagesrekorde der USA innerhalb der nächsten Wochen übertreffen." Das würde bis zu 5000 Toten innerhalb eines Tages bedeuten.

Kollabierende Gesundheitssysteme

Aus vielen Regionen kommen Hiobsbotschaften von überfüllten Krankenhäusern. Selbst teure Privatkliniken sind überfüllt. Im bevölkerungsreichsten Bundesstaat São Paulo registrierten einige Krankenhäuser Steigerungen von mehr als 300 Prozent bei Einlieferungen auf Intensivstationen innerhalb einer Woche. Bereits nächste Woche droht dort der Kollaps.

Gesundheitsminister Eduardo Pazuello will davon nichts wissen. "Es ist nichts kollabiert und das wird auch nicht passieren", so der General, dessen Glaubwürdigkeit zuletzt allerdings gelitten hat. Gegen ihn laufen Untersuchungen wegen des Zusammenbruchs der Sauerstoffversorgung in Krankenhäusern in Manaus Mitte Januar. Er soll frühzeitig davon gewusst, jedoch nichts unternommen haben. Statt Sauerstoff schickte er das unwirksame Malariamittel Chloroquin an die Krankenhäuser. Derzeit muss Pazuello zudem täglich die Zahl der zu erwartenden Impfstoffdosen nach unten korrigieren.

Kaum Impfdosen in Sicht

Die Regierung hatte lange Zeit nur auf den britisch-schwedischen Impfstoffhersteller AstraZeneca gesetzt, der jedoch Lieferschwierigkeiten hat. Die Initiative des Gliedstaates São Paulo, die Vakzine CoronaVac selbständig aus China zu importieren, hatte Bolsonaro dagegen aus politischen Gründen zu sabotieren versucht. Derzeit ist CoronaVac der einzige in größeren Mengen vorhandene Impfstoff in Brasilien. Ende 2020 hatte der Präsident, der sich bis vor wenigen Tagen noch kategorisch gegen Impfungen aussprach, ein Angebot von Pfizer/Biontech über 70 Millionen Impfdosen ausgeschlagen.

Ex-Präsident Lulas Comeback mit Corona-Kritik

Am Mittwoch hatte sich Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) mit bissiger Kritik an Bolsonaros Corona-Politik auf der politischen Bühne zurückgemeldet. "Befolgen Sie keine der dummen Anweisungen des Präsidenten oder des Gesundheitsministers", riet der immer noch einflussreiche Politiker. Er forderte die Brasilianer auf, sich impfen zu lassen. Die über 270.000 Corona-Toten gingen auf Bolsonaros Konto, der sich geweigert hatte, einen Krisenstab einzurichten, so der ehemalige Gewerkschaftsführer. "Dieses Land hat keine Regierung!"

Bereits kurz darauf zeigte sich Bolsonaro mit Gesichtsmaske in der Öffentlichkeit. Diese hatte er zuvor kategorisch abgelehnt. Beobachter glauben, dass der öffentliche Druck durch Lulas Kritik ihn zum Einlenken gebracht hat. Der Soziologe Demétrio Magnoli widerspricht dem. "Der Effekt von Lulas Rede wird da überschätzt." Vielmehr habe Bolsonaro seine Politik angesichts der Beschleunigung der zweiten Corona-Welle bereits vor rund zwei Wochen geändert, so Magnoli gegenüber der DW.

Bolsonaros Beraterstab habe damals ein Absacken seiner Beliebtheitswerte konstatiert. Zudem deuteten Gouverneure und der Kongress eine gemeinsame, von der Regierung unabhängige, Initiative zum Kauf von Impfstoffen an. "Bolsonaro sorgt sich nicht nur um seine Wiederwahl im nächsten Jahr, sondern fürchtet gar um die Stabilität seiner Regierung", so Magnoli. "Das Wasser steht der Regierung bis zum Hals. Und es steigt weiter." Zumal derzeit kaum Impfstoffe auf dem Weltmarkt zu kaufen seien.

Experten raten zu hartem Lockdown

Angesichts des Mangels an Impfstoffen fordern Experten einen rigorosen landesweiten Lockdown. "Es gibt keine Alternative mehr dazu", so Nicolelis. Dazu müsste wegen der sich rasch verbreitenden Manaus-Mutante P.1, die deutlich ansteckender sei, eine Abschottung des Landes kommen. "Brasilien ist gerade das größte Open-Air-Laboratorium der Welt, in dem sich neue Varianten bilden können." Angesichts der Gefahr für die ganze Welt sei die Staatengemeinschaft gefordert, Brasilien mit Impfstoffen zu versorgen, so Nicolelis.

Ein harter, mehrmonatiger Lockdown nach europäischem Vorbild sei in Brasilien nicht durchzuführen, mahnt dagegen der Soziologe Magnoli. Weder gebe es den dafür notwendigen politischen Konsens, noch habe man genug Polizei, um die Beschränkungen in den gigantischen Armengebieten durchzusetzen. Tatsächlich halten sich in den Peripherien der Großstädte deutlich weniger Menschen an Vorgaben wie Maskenpflicht. So sind beispielsweise in Rios armer Nordzone trotz explodierender Infektionszahlen kaum Menschen mit Maske anzutreffen.

Präsident Bolsonaro dient vielen Menschen als schlechtes Vorbild. Am Donnerstag bezeichnete er die von Bürgermeistern und Gouverneuren verhängten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen als "Ausnahmezustand". Die wirtschaftlichen Nebenwirkungen des Lockdowns seien zudem schädlicher als das Coronavirus selbst, Millionen Arbeitsplätze gingen dadurch verloren, so Bolsonaro. Die Maßnahmen zeigten, wie schnell man in Brasilien "eine Diktatur errichten" könne.

Autor: Thomas Milz, Quelle: Deutsche Welle 

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