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Corona in Chile: Proteste, Tränengas und dramatisch steigende Infektionen

In Chile protestieren Arbeiter, Arbeitslose und Obdachlose in den Armenvierteln für mehr Corona-Hilfen. Ihre Situation hat sich durch die Krise noch verschlechtert. Die Regierung reagiert mit Polizei und Tränengas. 

(Symbolbild) Polizei in Chile im Jahr 2013. Foto: Matthias Hoch 

Die ersten Juli-Tage sind in Chile oft Tage des Protestes. Es ist eine Tradition, die aus Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 bis 1990) stammt, als die Menschen am 2. und 3. Juli 1986 eine demokratische Öffnung forderten. Auch in Zeiten der Demokratie gehen die Chilenen in diesen Tagen wieder auf die Straße. Heute geht es nicht mehr um das Ende der Gewaltherrschaft, heute geht es gegen den ungeliebten Präsidenten Sebastián Piñera, seine Corona-Politik, seine Repression der Proteste und den neoliberalen Gesellschaftsentwurf, dessen Folgen sich auch in der Pandemie bemerkbar und den Menschen zu schaffen machen. 

Nach mehr als hundert Tagen Lockdown haben die Chilenen einfach die Nase voll und Angst um ihre Existenz. Nicht nur wegen der rund 318.000 Infizierten und mehr als 7000 Toten, weltweit Platz sechs in der Corona-Statistik für das kleine südamerikanische Land. Die Bevölkerung wehrt sich auch dagegen, eingesperrt zu sein und nur mit polizeilicher Erlaubnis und nur zwei Mal die Woche und lediglich für bestimmte Besorgungen raus zu dürfen.

 „Ohne Geld fürs Volk, gibt es keine Ruhe für die Regierung“

Vor allem für die Menschen in den „Poblaciones“, den Armenvierteln von Santiago de Chile ist diese Situation unerträglich und entlädt sich regelmäßig in massiven Protesten, die ebenso regelmäßig mit Tränengas und der militarisierten Polizei „Carabineros“ niedergewalzt werden. Anfang des Monats und am Wochenende war es vor allem „Villa Francia“, wo die Bewohner den Ausgangssperren trotzten und mit Spruchbändern dem Staat vorwarfen, sie ihm Stich zu lassen. „No hay plata pal pueblo, no hay tranquilidad pal gobierno“. „Ohne Geld fürs Volk, gibt es keine Ruhe für die Regierung“ schrieben die Bewohner in dem Armenviertel auf ein Bettlaken und machten mit brennenden Barrikaden und den typischen „cacerolazos“, dem wütenden Schlagen auf Töpfe und Pfannen, auf ihre Situation aufmerksam.

Bei den Protesten Anfang Juli, die sich im ganzen Land Bahn brachen, wurden insgesamt 137 Menschen festgenommen, die meisten davon in der Hauptstadt Santiago. In Villa Francia fuhr ein gepanzertes Polizeifahrzeug eine schwangere Frau an.

Die Wut der Menschen in den Armenvierteln ist verständlich. Sie leben von der informellen Wirtschaft, arbeiten auf dem Bau, in Supermärkten oder als Wach- oder Hauspersonal. Falls sie noch einen Job haben. Seit Ausbruch der Corona-Krise in Chile Mitte März sind 1,5 Millionen Jobs verloren gegangen. Alleine im Mai schrumpfte die chilenische Wirtschaft um 15,3 Prozent.

Aber während die Menschen in Zeiten der Pandemie auf Hilfe und Unterstützung von der Regierung hoffen, schickt der rechte Präsident Piñera lieber die Sicherheitskräfte. In Corona-Zeiten reagiert die Staatsmacht genauso wie auch vor dem Gesundheitsnotstand, als monatelange Demonstrationen gegen das neoliberale Wirtschafts- und Sozialmodell Chile an die Grenze der Unregierbarkeit brachten. Repression statt Dialog und Empathie.

Aufstand der Armen 

Dieses Mal aber sind es nicht Studenten, Schüler oder die Mittelklasse, die auf die Straßen gehen, es ist der unterste Teil der Gesellschaft. Arbeiter, Arbeitslose, Obdachlose. Menschen, die am gefährdetsten sind, weil sie meist nur prekäre Jobs bekommen und diese in Zeiten wie diesen sofort wieder verlieren. 30 bis 40 Prozent der Chilenen leben nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in dem einst als „Wirtschaftswunderland“ gepriesenen südamerikanischen Staat in „extremer Unsicherheit, die an eine Notlage grenzt“.

Die Corona-Krise habe noch einmal eine andere Seite des chilenischen Modells zum Vorschein gebracht, sagt Jorge Saavedra, der zu sozialen Bewegungen forscht. „Während die Menschen vorher gegen den Missbrauch des Systems, also niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten und ein gewinnorientiertes Bildungssystem auf die Straße gingen, prangert ein anderer Teil der Gesellschaft jetzt die Vernachlässigung durch den Staat an“, betont der Professor an der britischen Cambridge-Universität gegenüber dieser Zeitung. „Die Menschen in Villa Francia und vergleichbaren Orten fühlen sich vom Staat vergessen.“ 

Und die aktuellen Proteste seien erst der Anfang, vermutet Saavedra. In dem Maße wie dem Virus mehr Menschen zum Opfer fielen, würden sie zunehmen. „Spätestens wenn die Pandemie vorbei ist, wird sich die Wut auf das System stärker entladen als zuvor.“ Der „Soziale Protest 2.0“ werde einen noch viel größeren Teil der Bevölkerung vereinen; diejenigen, die unter dem Missbrauch des Staates leiden und diejenigen, die  Vernachlässigung durch eine unsensible Regierung beklagen. „Chile steht wie die Titanic vor dem Eisberg“, fürchtet Saavedra.

Autor: Klaus Ehringfeld 

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