Pandemie in Brasilien gerät außer Kontrolle
Überbelegte Krankenhäuser, fehlende Medikamente und zu wenig Impfstoffe: Brasilien droht die Corona-Katastrophe. Doch Präsident Bolsonaro wehrt sich gegen härtere Maßnahmen.
Immer bedrohlicher wird die Lage in Brasiliens Krankenhäusern. Nachdem bereits viele Intensivstationen wegen Überbelegung neue Covid-19-Patienten abweisen mussten, drohen nun auch noch der zur Beatmung der Patienten notwendige Sauerstoff sowie lebensrettende Medikamente auszugehen. Lokalpolitiker greifen zu immer härteren Maßnahmen, Präsident Jair Messias Bolsonaro versucht jedoch, Schließungen und Lockdowns mit Blick auf die angeschlagene Wirtschaft zu verhindern.
Ansteckendere Virus-Mutation sorgt für steigende Todeszahlen
Die Lage hatte sich in den vergangenen Wochen rasant verschärft. Zu Jahresbeginn hatte der angesehene Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis vor täglich bis zu 3.000 Toten Ende März gewarnt. Ernst nahm man ihn nicht. Mitte vergangener Woche zählte man in Brasilien bereits über 2.800 Tote. Angesichts der sich rasch ausbreitenden Manaus-Variante P.1, die um ein Vielfaches ansteckender ist als das ursprüngliche Coronavirus, droht laut Nicolelis nun gar Schlimmeres. "Wir können die amerikanischen Todesrekorde pro Tag in den nächsten Wochen übertreffen." Das wären rund 5.000 Tote pro Tag.
Nicolelis und andere Experten fordern einen rigorosen Lockdown, die Schließung von Flughäfen und Busbahnhöfen sowie Ausgangssperren. Bisher schreckten Politiker vor radikalen Schritten zurück, weil sie Proteste aus der Wirtschaft fürchteten. Zudem müssten die Sicherheitsbehörden wohl mit Gewalt vorgehen, um besonders in den überbevölkerten Armenvierteln die Maßnahmen durchzusetzen.
Doch angesichts des kollabierenden Gesundheitssystems machen nun immer mehr Gouverneure und Bürgermeister dicht. Am Samstag sperrte die Polizei die weltberühmten Strände von Rio de Janeiro ab. Erstmals seit Pandemiebeginn blieben Copacabana, Ipanema und Leblon ohne Badegäste. Für die kommende Woche sind weitere Einschränkungen geplant. In anderen Regionen werden kurzerhand die Osterferien vorverlegt. Bilder zeigen menschenleere Innenstädte.
Leere Strände, geschlossene Geschäfte und Ausgangsbeschränkungen
Die Maßnahmen missfallen jedoch der Zentralregierung. Am Donnerstag zog Bolsonaro vor das Oberste Gericht, um die von drei Gouverneuren verhängten Maßnahmen wie nächtliche Ausgangssperren sowie die Schließung von Geschäften, die keine für das tägliche Leben zwingend notwendigen Güter verkaufen, anzufechten. Der Präsident bezeichnete die Maßnahmen als Ausnahmezustand. Und den dürfe nur er ausrufen.
Bolsonaros Chancen auf einen juristischen Sieg sind gering. Die Richter hatten im vergangenen Jahr klargestellt, dass neben der Zentralregierung auch Bürgermeister und Gouverneure die Befugnis haben, Einschränkungen anzuordnen. Bolsonaro spricht seitdem davon, dass das Oberste Gericht ihm damals jegliche Kompetenzen bei der Bekämpfung der Pandemie entzogen hat, weswegen ihm die Hände gebunden seien.
Experten sehen in dieser bewusst falschen Darstellung den Versuch, das Missmanagement bei der Pandemiebekämpfung auf lokale Regierungen abzuschieben. Bolsonaros Zustimmungswerte waren zuletzt abgesackt, jüngst hielten 56 Prozent der Befragten ihn für unfähig, das Land zu regieren. Sogar 74 Prozent glauben, dass sich die Corona-Lage verschlimmern werde. Daran änderte auch nichts, dass Bolsonaro vergangene Woche einen neuen Gesundheitsminister präsentierte, bereits den vierten innerhalb eines Jahres. Angesichts eines Mangels an Impfstoffen stockt derzeit die Impfkampagne, zu spät hatte man sich um Lieferungen bemüht.
Bolsonaro droht der Justiz
Rasant vermehren sich dagegen Kampagnen in den Sozialen Netzwerken, die Bolsonaros Rücktritt fordern. Seit einem Jahr nun behindere er die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, heißt es etwa. Der Präsident habe die Beschaffung von Impfstoffen nicht nur verschleppt, sondern regelrecht sabotiert. Stattdessen pries er unwirksame Medikamente gegen Malaria und Wurmbefall an. Auch sprach er sich gegen Maskentragen und Impfungen aus.
Die Regierung versuchte bisher erfolglos, gegen die kritischen Stimmen vorzugehen. Einem bekannten Blogger, der Bolsonaro als "genocida" ("Massenmörder") bezeichnet hatte, wurde ein Verstoß gegen das Gesetz der nationalen Sicherheit vorgeworfen. Die Justiz sah jedoch von einer Klage ab. Für den Fall einer weiteren Niederlage vor Gericht drohte Bolsonaro nun Konsequenzen an: Die Zentralregierung könne zum Eingreifen gezwungen werden, falls das Oberste Gericht die angeordneten Ausgangssperren und Zwangsschließungen nicht stoppe. Er müsse dann handeln, "um die Freiheit des Volkes zu verteidigen und sein Recht, arbeiten zu dürfen", erklärte der Präsident. Ob er einen Einsatz des Militärs in Erwägung ziehe, ließ er offen.