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Brasilien: Venezolanische Flüchtlinge von Abschiebung bedroht

Die Pandemie hat die Situation geflüchteter Venezolaner im Gliedstaat Roraima verschärft. In der vergangenen Woche konnte die Zivilgesellschaft die Abschiebung einer größeren Gruppe von Geflüchteten gerade noch einmal verhindern.

Venezolanische Geflüchtete an der Grenzstation in Pacaraima, Brasilien. Foto: Thomas Milz

Venezolanische Geflüchtete an der Grenzstation in Pacaraima, Brasilien. Foto: Thomas Milz

Roberto Saraiva ist einer von drei Koordinatoren des Service Pastoral dos Migrantes (SPM), der Migrantenpastoral der katholischen Kirche in Brasilien, die vom deutschen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird. Im Gespräch mit Blickpunkt Lateinamerika berichtet er über die Lage in Roraima, im nördlichsten Gliedstaat Brasiliens an der Grenze zu Venezuela.
 
Blickpunkt Lateinamerika: Am 17. März holte die Bundespolizei mehr als 70 Geflüchtete aus kirchlichen Einrichtungen in der Grenzstadt Pacaraima und versuchte sie abzuschieben. Was war passiert? 
 
Roberto Saraiva: Die Polizei tauchte plötzlich in den Unterkünften auf. Ordensschwestern und ein Priester hatten Migranten mit Kindern von der Straße hereingeholt. Die Frauen und Kinder wurden von den Ordensschwestern versorgt, der Priester kümmerte sich um die Männer. Die Polizisten hatten keinen Durchsuchungsbefehl, sondern sie haben sich mit Begründung der Corona-Beschränkungen illegal Zutritt verschafft. 
 
Dann haben sie gesagt, dass die Ordensschwestern eine illegale Menschenansammlung gegen die Corona-Bestimmungen abgehalten hätten und haben alle mitgenommen. Mit der Absicht, die Geflüchteten dann abzuschieben. Die Ordensschwestern und der Priester wurden auf dem Revier verhört. Zwei Anwälte der Caritas haben durchgesetzt, bei den Verhören anwesend zu sein. 
 
Die Anwälte konnten die geplante Zwangsabschiebung der Flüchtlinge verhindern?
 
Ja, niemand wurde abgeschoben. Dank des Eingreifens der Zivilgesellschaft konnte diese aggressive Aktion der Polizei gestoppt werden. Und als wir dann unser Statement veröffentlichten, schalteten sich das Ministério Publico Federal (Bundesstaatsanwaltschaft) und die Defensoria Pública da União (DPU), Brasiliens Verteidigungsstaatsanwaltschaft ein. Sie erreichten eine erstinstanzliche Entscheidung, die die Abschiebungen untersagt.
 
Wie ist denn generell die Situation an der Grenze zu Venezuela?
 
Die Bundespolizei hat Gruppen von Geflüchteten, die sie an der Grenze aufgegriffen haben, bisher sofort an die venezolanische Grenzpolizei übergeben. Die Flüchtlinge kommen über Trampelpfade entlang der grünen Grenze. Die Bundespolizei dort hat den Auftrag, aufgegriffene Illegale sofort zu deportieren. Aber wenn die Geflüchteten erst einmal in einer Unterkunft sind, verzichtet die Polizei eigentlich auf die sofortige Deportation. Wir kämpfen seit langem gegen die sofortige Abschiebung von Familien, die sich ja in einer sehr verletzlichen Lage befinden, und planen, dagegen offiziell vorzugehen. Denn die Abschiebung würde nur dazu führen, sie noch verletzlicher zu machen. 
 
Wieso werden die Geflüchteten denn nicht offiziell registriert, wie es früher geschah?
 
Es werden verschiedene Gründe angeführt, die Geflüchteten nicht zu registrieren. Der erste Grund ist, dass die Grenze wegen der Pandemie geschlossen ist. Damit können die Geflüchteten also gar nicht den Stempel an der Grenze bekommen, der den Grenzübertritt dokumentiert. Und das führt zu einer juristischen Zwickmühle.
 
Die Behörden in Pararaima versuchen unter allen Umständen die Geflüchteten abzuschieben? 
 
Da laufen sich widersprechende Aktionen ab. Die staatlichen Behörden wollen nicht, dass Flüchtlinge nach Brasilien kommen, denn derzeit kommen die Ärmsten der Armen. Aber die Wirtschaft ist Dank der Migranten stark gewachsen, und die Händler verlangen, dass man die Grenze wieder aufmacht. Aber die staatlichen Behörden, die Minderheiten schützen sollen, setzen sich vehement für deren Schutz ein. Selbst Militärs, die bei der „Operação Acolhida“ (Aufnahme und Versorgung durch das Militär) mitmachen, verstehen, wie sozial verletzlich diese Menschen sind und bemühen sich, Lösungen zu finden.
 
Aber wie sieht es seitens der Regierung aus?
 
Die Regierung blockiert. Tag für Tag wird das Personal, das die Registrierung vornimmt, weniger. Das liegt auch an den Auswirkungen der Pandemie auf die Bürokratie. Die Bundespolizei Polícia Federal hat früher 500 Geflüchtete pro Tag registriert, jetzt sind es 500 pro Monat. Aber alleine in Roraima haben wir derzeit rund 11.000 nicht registrierte Geflüchtete, und nach Gesetzeslage dürften sie als Nicht-Registrierte in Grenznähe jederzeit abgeschoben werden. Dank des Einsatzes der Zivilgesellschaft konnten wir das also erst einmal stoppen. 
 
In den vergangenen Jahren wurden Geflüchtete auf andere Gliedstaaten Brasilien verteilt, um die Situation in Roraima zu entschärfen. Passiert dies derzeit noch?
 
Das läuft, aber auf sehr niedrigem Niveau. Denn die Venezolaner, die man verteilen könnte, haben keine offiziellen Dokumente für Brasilien. Und ohne diese Regulierung können sie nicht woanders hin gebracht werden. Wir selbst haben etwa ein Dutzend Heime in Brasilien, in denen wir diese Leute aufnehmen können. Aber auch da geht es nur mit offiziellen Dokumenten. Wer die nicht hat, sitzt fest.
 
Und sie wollen auch nicht zurück nach Venezuela?
 
Nein, denn die Situation dort wird immer schlimmer. Letztes Jahr war es schon schwierig, jetzt ist es jedoch nahezu unmöglich, dort zu überleben. Die Supermärkte sind leer, und die wenigen Lebensmittel sind sehr teuer. 
 
Sind die Venezolaner in Roraima willkommen?
 
Ganz allgemein gesprochen sind sie willkommen. Bisher hat die Bevölkerung sich stets bemüht, ihnen unter die Arme zu greifen. Aber die Migranten gegenüber feindliche Politik der Zentralregierung spiegelt sich bei der Regierung vor Ort wider. So erschwert die Gliedstaatregierung die Unterbringung von Geflüchteten. Gleichzeitig sehen wir, dass auch in der Bevölkerung nun eine Müdigkeit einzieht, weil so viele Migranten auf den Straßen kampieren. Dazu kommt die Pandemie, die Lösungen zusätzlich erschwert. 
 
So kommt es vereinzelt zu fremdenfeindlichen Ausbrüchen. Aber wenn man schaut, wie lange diese Flüchtlingswelle nun schon anhält, und wie viele gekommen sind, und wenn man betrachtet, wie vielen Menschen, auch von der Kirche, geholfen wurde, dann kann ich nicht sagen, dass die Bevölkerung fremdenfeindlich ist. Und viele der Flüchtlinge leben nun schon lange in den Städten, und das läuft ohne Probleme ab. Roraima hat nur 450.000 Einwohner, und wenn dann so viele Flüchtlinge kommen, sind Konflikte nicht auszuschließen. Denn die Leute vor Ort können damit nicht alleine fertig werden. Dazu kommt, dass sich das politische Klima in Brasilien derzeit sowieso radikalisiert. Und die Geflüchteten werden da leicht zu Opfern. 
 
Sie begleiten auch Geflüchtete, die in anderen Regionen Brasiliens untergekommen sind. Wie ist deren Situation? 
 
Viele hatten sich bereits eingelebt, hatten Wohnungen und Arbeit. Aber dann kam die Pandemie, und viele sind wieder auf die Hilfe von Organisationen angewiesen. Sie brauchen plötzlich wieder Lebensmittel. Dabei hatten wir sie schon auf den Weg gebracht, selbständig zu überleben. Sobald wir nun eine Chance auf eine neue Arbeit sehen, reden wir mit den Unternehmern, damit diese Leute sich wieder selbständig über Wasser halten können. Gut war, dass praktisch alle Venezolaner im vergangenen Jahr vom brasilianischen Staat die Corona-Hilfen bekamen. Die jetzt anlaufenden, neuen Corona-Hilfen werden geringer sein, und wahrscheinlich werden diese - übrigens für alle reduzierten - Hilfen nicht ausreichen, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen. 
 
Obwohl die Zentralregierung also die Geflüchteten nicht gerne sieht, bekommen sie trotzdem Unterstützung?
 
Die Zivilgesellschaft, die mit den Venezolanern arbeitet, hat sich stets bemüht, sie in die Sozialprogramme der Regierung zu integrieren, also „Bolsa Família“, „Auxílio Emergencial“ und Zugang zu Gesundheit und Bildung. Und die Regierung muss sich ja an die Gesetze und die Verfassung halten, in der die Rechte auf Sozialhilfen festgelegt sind. Die Geflüchteten, die entweder eine Aufenthaltsgenehmigung oder den Flüchtlingsstatus haben, die eine Sozialversicherungsnummer und Arbeitspapiere haben, haben die gleichen Rechte wie Brasilianer. Da konnte die Regierung nicht einfach Nein sagen. Und sollten sozial verletzliche Familien ausgeschlossen werden, können wir das vor Gericht einklagen.  

Pressemitteilung von Adveniat: Repam und Adveniat verurteilen Gewalt gegen venezolanische Flüchtlinge in Nordbrasilien

Hilfe für Geflüchtete
Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt den Einsatz von Roberto Saraiva für Migranten an der venezolanisch-brasilianischen Grenze. Auch Sie können helfen - mit einer Spende!

Interview: Thomas Milz, Brasilien

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