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Vom wirtschaftlichen und moralischen Abstieg der Mittelschicht

Für die argentinische Mittelschicht waren die 1990er Jahre eine Periode des Wohlstands. Die Regierung hatte den schwachen, unter ständigem Wertverlust leidenden Peso fest an den US-Dollar gekoppelt und so eine vermeintliche wirtschaftliche Stabilität herbeigeführt. Vieles war auf einmal möglich, und wer es mit Recht und Gesetz nicht gar so eng sah, konnte sogar eine beträchtliche Verbesserung seiner Lebensverhältnisse erreichen. Ein sichtbares Zeichen für dieses Wohlstandsjahrzehnt war das Aufkommen zahlreicher Gated Communities. Die abgeschlossenen, umzäunten Wohngebiete gaben den Angehörigen der Mittelschicht ein Gefühl von Sicherheit. Die Habenichtse konnten nicht mehr in ihre Lebenswelt eindringen, es sei denn, sie wurden als Hausmädchen, Gärtner oder Sicherheitskräfte engagiert. Die Besitzenden waren in den elitären Gemeinschaften unter sich, verfassten eigene Regeln und waren nicht mehr auf die Staatsmacht angewiesen.

In einem solchen Umfeld spielt „Die Donnerstagswitwen“, der neue Roman der argentinischen Autorin Claudia Piñeiro. Das Buch zeigt auf teils skurril-komische, teils auf beklemmende Weise das Leben einer Handvoll Menschen in einer geschützten Siedlung namens La Cascada. Es ist eine Geschichte vom mondänen Leben jenseits von Existenzängsten, vom scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg, der jedoch – Stichwort: Staatsbankrott im Dezember 2001 – nur von kurzer Dauer war. Mehr noch: Die Illusion von einer traumhaften Sicherheit in einer behüteten Gemeinschaft wird in „Die Donnerstagswitwen“ Kapitel für Kapitel demontiert.

Am Anfang des Romans stehen drei Todesfälle: Die Leichen von drei Männern werden in einem Swimmingpool gefunden. Doch statt daraus eine Kriminalstory zu gestalten, erzählt die Autorin in kurzen Kapiteln von den Bewohnern der Gated Community. Zu den wichtigsten Figuren gehört der dominante Tano, der Geschäftsführer der argentinischen Niederlassung eines europäischen Unternehmen ist, und seine Frau Teresa. Oder die Eheleute Urovich, die wegen der langen Arbeitslosigkeit des Ehemannes Martín in großen Schwierigkeiten stecken. Schließlich noch Virginia, die ihr Geld mit der Vermittlung von Immobilien verdient und so einen exzellenten Überblick über die finanzielle Lage zahlreicher Nachbarn hat. Virginia ist auch die Ich-Erzählerin, aus deren Perspektive ein Großteil des Romans dargestellt wird. Darüber hinaus gibt es eine Handvoll Passagen in „Wir“-Form, in denen die Bewohnerschaft von La Cascada gleichsam als Chor auftritt. Es ist ein gespenstisches „Wir“. Vermeintlich einig tritt es auf, und doch merkt der Leser, dass es in Zeiten des wirtschaftlichen Abstiegs mit der Einigkeit nicht weit her ist.

Nein, es existieren Bruchstellen, und je weiter die Story geht, desto deutlicher treten sie zutage. Claudia Piñeiro führt die Brüche anhand von Figuren vor, die nicht ins Bild vom stromlinienförmigen Gemeinwesen passen. Da ist zum Beispiel Virginias Sohn Juani, der auf einer Schwarzen Liste auftaucht, weil man ihm den Konsum von Marihuana vorwirft. Auf erschreckende Weise wird deutlich, dass die Maßnahme – das Führen der Liste – stark an jene Maßnahmen einer zu Gewalt neigenden Diktatur erinnert, von denen Argentinien einige erlebt und erlitten hat.

Thomas Völkner

Claudia Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, Zürich: Unionsverlag 2010, ISBN 978-3-291-00417-2, 19,90 Euro

Eine Vorstellung des Romans „Elena weiß Bescheid“ von Claudia Piñeiro finden Sie in Folge 8 des Podcasts „Hörpunkt Lateinamerika“.

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