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Vom "Kunstschreiber" zum "Schreibkünstler"

Zu den wichtigsten Werken von Mario Vargas Llosa zählt ein Roman aus dem Jahr 1977, der im spanischen Original „La tía Julia y el escribidor“ heißt. Bei uns ist das sehr unterhaltsame Buch unter dem Titel „Tante Julia und der Kunstschreiber“ bekannt. Nachdem Vargas Llosa im letzten Herbst den Literatur-Nobelpreis erhalten hat, brachte der Suhrkamp-Verlag jüngst eine Neuübersetzung des Bestsellers auf den Markt und tastete dabei auch das prägnante Wort „Kunstschreiber“ an.

Wo steckt die Kunst in „escribidor“?

Die Vokabel „escribidor“ aus dem Titel lässt sich recht gut mit „Schreiberling“ übersetzen und vermittelt das Bild eines leidlich begabten Verfassers von Gebrauchstexten ohne künstlerischem Wert. In Heidrun Adlers vor vielen Jahren veröffentlichten Übersetzung wurde daraus ein „Kunstschreiber“, bei dem man gleich an die bekanntere Vokabel „Kunstmaler“ erinnert wird und an eine Person denkt, die künstlerisch Wertvolles verfasst. Wenn in der neuen Übersetzung von Thomas Brovot aus dem „escribidor“ nun ein „Schreibkünstler“ geworden ist, wird der „Kunst“-Dimension, die in der Originalvokabel gar nicht enthalten ist, ein noch höherer Stellenwert gegeben. Und doch ist der Titel der neuen Ausgabe, „Tante Julia und der Schreibkünstler“, keineswegs schlecht gewählt, geht es in dem Roman doch – unter anderem – um einen Schreiberling, der fest daran glaubt, mit seinen Gebrauchstexten in Wahrheit große Kunst zu kreieren.

Thomas Brovot, ein Fachmann für Übertragungen lateinamerikanischer Literatur, hat den über drei Jahrzehnte alten Text aufgefrischt, ohne sich den deutschsprachigen Leser/innen anno 2011 anzubiedern. Er vermeidet unnötige neumodische Wortschöpfungen. Statt dessen fallen Begriffe auf, die modisch-aktuell erscheinen, tatsächlich aber schon sehr lange in Gebrauch sind: „das Trumm“ für eine solide, schwergewichtige Schreibmaschine oder „Schwachmaten“ als Schimpfwort für allzu schlappe Fitness-Schüler. Im Vergleich zur früheren Übersetzung schneidet die neue durchaus gut ab: Aus dem „Salär“ wird das „Gehalt“, aus „die Arbeit bestand aus“ wird „es geht darum, dass“, und aus dem „internationalen Kommentar“ wird präzisierend ein „Kommentar zum Weltgeschehen“.

Literarische Verarbeitung der Geschichte einer Beziehung

Wer Mario Vargas Llosa kennenlernen möchte, dem bietet „Tante Julia und der Schreibkünstler“ eine gute Einstiegsmöglichkeit. Es ist ein leichter, humoristischer, satirischer Text, eine gelungene Mischung aus vielen unterhaltsamen und ein paar ernsthaften Elementen. Vargas Llosa verarbeitet darin eine wichtige Episode aus seiner Jugend: die Beziehung zu seiner ersten Frau Julia Urquidi Illanes, die die Schwester einer Schwägerin seiner Mutter und damit gewissermaßen seine Nenntante war. Die Tía Julia aus der Realität war zu Beginn der Beziehung frisch geschieden und fast 15 Jahre älter als der Teenager Mario. Es entstand ein veritabler Familienskandal.

Die Hauptfigur des Romans ist entsprechend ein Jura-Student namens Mario, der nebenbei als Nachrichtenredakteur bei einem Radiosender in Lima arbeitet. Er lernt schnell, dass die meisten Leute vor allem wegen der vielen Hörspielserien mit ihren populären, reißerischen und glamourösen Storys einschalten. Ein Bolivianer namens Pedro Camacho wird als alleiniger Autor für eine immer größere Zahl von Radionovelas engagiert, die den halben Tag lang eine nach der anderen ausgestrahlt werden. Mario freundet sich mit dem schrulligen Außenseiter an – diesem wie am Fließband arbeitenden „escribidor“, für den das Geschreibsel eine hohe Kunst darstellt.

Panoptikum toller Geschichten

Die Romankapitel springen hin und her: Einmal geht es um die Liebesaffäre zwischen Mario und seiner Tante, die Reaktion der Großfamilie sowie die Ereignisse beim Sender. Dazwischen geschaltet sind Beschreibungen einzelner Folgen von Pedro Camachos Radiohörspielen, die jedoch nie zu Ende erzählt werden. Im Laufe des Romans werden die Ergüsse des „Schreibkünstlers-Kunstschreibers“ immer dramatischer und konfuser. Die Figuren verlieren ihre Konturen, wandern von einer Radio-Soap in die nächste oder sterben tausend tragische Tode. Mario, der gerne selbst mit dem Schreiben Geld verdienen möchte, erkennt, wie leicht sich ein Autor in einem ausufernden Werk verlieren kann.

„Tante Julia und der Schreibkünstler“ ist ein großes Panoptikum toller Geschichten: Geschichten, die Mario von Freunden und Verwandten erzählt bekommt, die er sich ausdenkt, die er selbst erlebt, die er im Radio hört oder die zu radiofähigem Stoff verarbeitet werden. Komische, bewegende, absurde Geschichten – von untreuen Bräuten, spiritistischen Zirkeln, zeugungsunfähigen Witwern, verunglückten Schiffspassagieren ... und von der Liebe eines jungen Mannes zu seiner 14 Jahre älteren Tante.

Die echte Julia Urquidi Illanes starb am 10. März 2010 in Bolivien. Als „Tante Julia“ lebt sie in der Literatur weiter, und das jetzt sogar in einer frischen Übersetzung.

Thomas Völkner

 

Mario Vargas Llosa: Tante Julia und der Schreibkünstler Übersetzt von Thomas Brovot

Berlin: Suhrkamp 2011

447 Seiten, 22,90 Euro

ISBN 978-3-518-42255-7

 

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