Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.
Haiti |

"Tief traumatisierte Menschen"

Von kranken, verletzten, traumatisierten Menschen, von Unterernährung und Notunterkünften, aber auch von Solidarität, Freude und Hilfsbereitschaftaber in Haiti berichtet die Ordensfrau María Fernanda Ramirez, eine Missionsärztliche Schwester aus Peru. Sie war von Anfang Feburar bis Mitte März in Haiti, um verletzten Menschen zu helfen. Sr. Birgit Weiler, ebenfalls Missionsärztliche Schwester, sprach mit ihr über Eindrücke und Erfahrungen.

María Fernanda, wie ist es zu Deinem Einsatz in Haiti gekommen?

Die Jesuiten haben die Initiative ergriffen, die Hilfe für Haiti zu koordinieren und ein Netzwerk der verschiedenen Hilfsorganisationen zu schaffen, die so genannte „Red de Ayuda a Haití“. Sie baten andere Ordensgemeinschaften, so auch die Missionsärztlichen Schwestern in Lateinamerika, um Unterstützung durch weiteres Personal. Da ich für einen Monat von meiner Arbeit in Peru frei gestellt werden konnte, ging ich im Auftrag meines Ordens in dieser Zeit nach Haiti.

Was war Deine Aufgabe vor Ort?

Gemeinsam mit anderen Ärztinnen und Ärzten war ich in den Unterkünften auf dem Noviziatsgelände der Jesuiten in Port-au-Prince untergebracht. Von dort haben wir regelmäßig verschiedene Zeltlager innerhalb und außerhalb der Stadt besucht, in denen Tausende von Menschen notdürftig untergebracht sind und auf medizinische Versorgung warten. Ich arbeitete eng mit Mitgliedern der so genannten „Iniciativa Comunitaria“ zusammen, einer Solidaritätsgruppe, die von dem katholischen Arzt José Vargas Vidot aus Puerto Rico gegründet wurde. Er ist auch der Koordinator dieser Gruppe. Ich beteiligte mich u.a. an den ärztlichen Visiten im Sanitätszelt, in dem die Menschen unmittelbar nach einer Operation untergebracht wurden. Hier kümmerte ich mich um die Menschen, insbesondere Kinder, die Gliedmaßen durch eine Amputation verloren hatten.

Unter welchen Krankheiten und Verletzungen leiden die Menschen vor allem?

Die Menschen leiden hauptsächlich an Bronchitis, Lungenentzündung und Durchfall. Viele Kinder sterben an diesen Krankheiten, da sie aufgrund starker Unterernährung kaum Widerstandskräfte besitzen. Auch Hautkrankheiten sind wegen der schlechten hygienischen Verhältnisse weit verbreitet. Wenn wir zu den verschiedenen Zeltlagern in der Stadt und in ihrer Umgebung kamen, hatten die Patienten dort bereits lange Schlangen gebildet und warteten geduldig darauf, behandelt zu werden. Wir bemühten uns darum, trotz der großen Anzahl ein wenig Zeit für ein persönliches Gespräch mit jeder Patientin bzw. jedem Patienten aufzubringen. Denn die Menschen, die zu uns kamen, waren großenteils tief traumatisiert. Viele hatten zahlreiche Stunden unter den Trümmern der Gebäude gelegen und Todesangst ausgestanden, bevor sie gerettet wurden. Die meisten verloren zahlreiche Familienangehörige, Freunde und Bekannte bei dem Erdbeben. Nun wollten sie mit jemandem über ihren Schmerz reden und spüren, dass sie in ihrer Not und Trauer nicht allein sind.

Erinnerst Du Dich an Deine ersten Eindrücke, als Du in Port au Prince ankamst?

Ich war tief erschüttert, als ich sah, wie zerstört die Hauptstadt war. So weit mein Blick reichte, schaute ich auf Berge von Trümmern, aus denen völlig verbogene Eisenträger ragten. Zwischen den Trümmern sah ich Teile von zerborstenen Kleiderschränken mit Kleiderfetzen und allerlei zerstörten Hausrat. An der eingestürzten Hauswand eines Gebäudes, das einmal aus vier Stockwerken bestanden hatte, baumelte noch immer eine Schnur mit einem Spielzeugauto daran. Mich machte es sehr betroffen, auf den Straßen viele alte Menschen zu sehen, die vor den Trümmerresten ihrer Häuser saßen und fassungslos ins Leere schauten. Sie hatten alles verloren, was sie besessen hatten. Ich blickte in die Gesichter von Kindern, die mich zwar anlächelten, in deren Augen sich jedoch eine tiefe Traurigkeit spiegelte.

Wie sieht es in den Zeltlagern in und außerhalb der Stadt aus?

Zeltlager ist eigentlich ein beschönigender Ausdruck. Denn in Wirklichkeit leben an diesen Orten die Menschen eng zusammengedrängt in kleinen „Zelten“, die sie aus Plastikfolien, Kleidungsresten, Bettüchern und Karton provisorisch hergestellt haben. Die Lebensverhältnisse sind zumeist menschenunwürdig. Es mangelt an Wasser, Lebensmitteln und Hygiene. Bei der Anfahrt zu den verschiedenen Zeltlagern machten wir immer wieder die Erfahrung, dass die Kinder, sobald sie unser Auto sahen, in Scharen herbeiliefen und uns inständig um Wasser und um etwas zu essen baten.

Was hat Dich am meisten bewegt?

Während meiner Zeit in Haiti bin ich einer großen Zahl von Menschen begegnet, die Hunger und Durst litten. Mir hat es sehr weh getan, so viele Kinder in einem Stadium extremer Unterernährung zu sehen. Diese Kinder litten zudem noch unter verschiedenen Infektionskrankheiten, da ihre Widerstandskräfte völlig geschwächt waren. Ich sah viele Kleinkinder, die vom Tod bedroht waren, da ihre Mütter ihnen keine Muttermilch mehr geben konnten. Denn sie waren selbst unterernährt. Zu meinen bewegendsten Erfahrungen gehört die Begegnung mit einem jungen Vater, der seinen kleinen, vier Monate alten Sohn auf dem Schoß hielt. Der Vater stand noch unter Schock als ich ihn traf. Die Ärzte hatten dem Baby das rechte Bein amputieren müssen. Zudem war das Kind völlig unterernährt. Wir kämpften um sein Überleben, aber es starb nach drei Wochen. In den meisten Zeltlagern, die ich besuchte, fehlt es an allem, was zu einem menschenwürdigen Leben gehört. Das tägliche Leiden der Menschen dort hat mich tief erschüttert.

Eine andere sehr bewegende Erfahrung war unser Besuch in einer Ortschaft, die „Río frío“ (kalter Fluss) heißt. Sie liegt etwa drei Stunden Autofahrt von Port-au-Prince entfernt. Eine haitianische Schwesterngemeinschaft hatte dort eine Schule aufgebaut und geleitet. Die meisten Schüler – etwa zweihundert – kamen beim Einsturz des Schulgebäudes ums Leben. Als wir zu den Trümmern des Gebäudes kamen, waren wir uns bewusst, vor einem großen Friedhof zu stehen. Es war sehr bewegend, einerseits den tiefen Schmerz der Menschen in dieser Ortschaft zu spüren – die meisten Eltern haben Kinder durch den Einsturz des Schulgebäudes verloren – und zur selben Zeit die große Dankbarkeit und Freude der Menschen zu erfahren. Sie sagten immer wieder: „Danke, dass ihr an uns gedacht habt! Danke, dass ihr zu uns gekommen seid.“

Gab es auch hoffnungsvolle und ermutigende Erfahrungen?

Inmitten der schmerzlichen Realität Haitis habe ich Gesten der Solidarität zwischen den Betroffenen gesehen, die ich niemals vergessen werde. An einem Tag z.B. traf ich eine Frau, die unter den Trümmern ihres Nachbarhauses ein 21 Tage altes Baby geborgen hatte. Die Eltern des Kindes waren von einstürzenden Gebäudeteilen getötet worden. Obwohl die Frau selbst drei Kinder hat und materiell sehr arm ist, nahm sie dieses kleine Kind als ihr eigenes an, um für es zu sorgen. An einem anderen Tag begegnete ich einem zwölfjährigen Jungen, der verwaist war und sich äußerst liebevoll seiner jüngeren Geschwister annahm. Ich traf auch eine alte Frau, deren neun Enkelkinder durch das Erdbeben zu Waisen geworden waren. Die Großmutter nahm die Kinder bei sich auf. Mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht sagte sie mir: „Ich danke Gott dafür, dass ich noch lebe und mich um meine Enkelkinder kümmern kann.“

Auf der Hauswand eines halb zerstörten Hauses las ich im Vorbeigehen den Satz: „Trotz allem glaube ich an Gott.“ Mich hat es sehr berührt zu sehen, wie viele Männer und Frauen in Haití dazu bereit sind, ihre Zeit und Fähigkeiten in den Dienst von Organisationen zu stellen, die sich täglich darum bemühen, den vom Erdbeben am stärksten Betroffenen Hilfe zu bringen. Alle diese Gesten der Solidarität sind ein Hoffnungslicht inmitten der Dunkelheit des immensen menschlichen Leids in Haiti.

Welchen Beitrag leistet die Kirche inmitten dieser Situation von Not und Elend?

Die verschiedenen Ordensgemeinschaften, kirchlichen Hilfswerke, christlichen Bewegungen und Solidaritätsgruppen, die in Haiti präsent sind, leisten einen ganz wichtigen und notwendigen Dienst in diesem zerstörten Land. Sie engagieren sich dafür, dass die Hilfe so zügig wie möglich bei den bedürftigsten Menschen ankommt. Die Vereinten Nationen bauen in Haiti auf die Hilfe der Kirche, da sie selbst viele Mitarbeiter und einen großen Teil ihrer Einrichtungen durch das Erdbeben verloren haben. Wir haben den Mitarbeitern der UNO z.B. dabei geholfen, die Plastíkfolien für die Zelte herzurichten und in die verschiedenen Zeltlagern der Stadt zu bringen, wo Tausende von obdachlosen Menschen bereits darauf warteten, da die Regenzeit begann. Viele kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen den Menschen in ihren täglichen Nöten bei und versuchen, ihnen neuen Lebensmut zu geben.

An dieser Stelle möchte ich auch sagen, dass die so genannten Blauhelme der Vereinten Nationen eine beeindruckende Arbeit leisten, da sie weitgehend die Sicherheit garantieren. Denn die haitianische Polizei ist ebenfalls durch das Erdbeben schwer getroffen worden und hat viele Mitglieder verloren. Sie ist im Moment noch gar nicht in der Lage, die Sicherheit im Land ausreichend wiederherzustellen. Ohne die UNO-Soldaten wäre es uns nicht möglich gewesen, in verschiedene Zonen der Stadt zu gehen. Denn Plünderungen und Überfälle sind dort an der Tagesordnung. Sie sind bedingt durch das große Elend und die Verzweiflung der Menschen.

Welche Gedanken bewegen Dich nach Deiner Rückkehr aus Haiti?

Haiti ist ein Land mit einer sehr schmerzlichen und schwierigen Geschichte. Die Konquista, die Kolonisierung, die Versklavung der Menschen, die verschiedenen Diktaturen und Naturkatastrophen haben eine unauslöschliche Spur in diesem Land hinterlassen. Es hat mich als Lateinamerikanerin zutiefst bewegt, auf unserem Kontinent ein Land mit einer so bitteren Armut zu sehen. Haiti ist ein Land, das im Elend zu versinken droht. Ein haitianischer Jesuiten sagte mir beim Abschiedsgespräch: „Meine größte Angst ist, dass die Welt uns bald nach dieser Katastrophe wieder vergessen wird. Wir sind ganz auf die internationale Solidarität angewiesen, um unser Land Schritt für Schritt wieder aufbauen und die schreckliche Armut mit all ihren zerstörerischen Konsequenzen überwinden zu können.“

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