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Chile |

Nun sprechen die Frauen der Colonia Dignidad

Das Buch „Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad“ (Foto: Adveniat/Wielebski)
Das Buch „Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad“ (Foto: Adveniat/Wielebski)

„Ich persönlich bin jetzt so weit, dass ich sage: Wir waren eine Sekte“, sagte Renate Malessa (74), verheiratet, fünf Kinder, Krankenschwester. Sie spricht über die Colonia Dignidad, einen Albtraum auf chilenischem Boden.

Die deutsche Sekte, gegründet und geleitet von Paul Schäfer, entstand als christliche Gemeinschaft „Private Sociale Mission“ im nordrhein-westfälischen Lohmar-Heide. Die Gemeinschaft flüchtete über Nacht nach Chile, als bekannt wurde, dass Schäfer zwei Jungen vergewaltigt hatte. Die Bonner Staatsanwaltschaft stellte einen Haftbefehl aus, der nie vollstreckt wurde. In Chile etablierte Schäfer ein Terrorregime: Misshandlungen, Vergewaltigungen, Psychoterror, Isolierung und Familientrennungen fanden auf dem nach außen wie ein Hochsicherheitsgefängnis abgeriegelten Gelände der Sekte statt. Schäfer war ein Frauenhasser, die Frauen litten vor allem unter Demütigungen und Misshandlungen. Zeugnis davon gibt das neu erschienene Buch „Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad“ von Heike Rittel und Jürgen Karwelat. Darin berichten Frauen aus ihrer Perspektive vom Leben aus der Kolonie.

Jahre des Grauens

„Dann packte [Schäfer] mich erneut und knallte meinen Kopf voller Hass auf die Schreibtischkante. Es krachte in meinem Schädel. Meine Nase war gebrochen." Auf den 272 Seiten kommen fünfzehn Frauen zur Wort. Manche sind in der Colonia Dignidad geboren worden oder wurden adoptiert, andere waren bereits in Deutschland dabei und haben die Neugründung in Chile von Anfang an miterlebt. Eine Stärke des Buches ist die Vielfalt der Biographien. Übereinstimmend berichten alle Frauen, die während der Herrschaft Schäfers in der Colonia Dignidad gewohnt haben, von Misshandlung und frauenfeindlichen Vorschriften. Die Grausamkeiten, die geschildert werden, sind stellenweise schwer zu ertragen. Rose (Name geändert) erzählt von einer Nacht, in der sie von einem Sektenmitglied sexuell missbraucht wurde bestraft wurde jedoch nicht der Täter, sondern Rose. Als sie Schäfer den Vorfall schildert, erhält sie Schulverbot und wird von ihrem Vater verprügelt. Eine der perfidesten Praktiken waren die Misshandlungen der Frauen und Mädchen im sekteneigenen Krankenhaus auf dem Gelände. Dort wurden sie mit elektrischen Viehtreibern an den Geschlechtsteilen gefoltert. Die Frauen trugen Verletzungen davon, die eine Schwangerschaft erschwerten oder unmöglich machten. So ist die unterdrückte Sexualität das allumfassende Thema des Buches. Frauen und Männer wurden in der Kolonie getrennt, Aufklärungsunterricht gab es nicht und alles, was nur im Geringsten mit Sexualität zu tun hatte, wurde mit Scham belegt. So taucht in vielen Protokollen die erste Menstruation als prägendes Ereignis im Leben der Frauen auf. Sie wussten nicht, was mit ihrem Körper passiert. Manche hatten Angst zu sterben. Die erste Liebe, meist spät im Leben, und der Kinderwunsch sind weitere Themen, die in diesem Zusammenhang zur Sprache kommen.

Dennoch bemühen sich die Frauen, auch die positiven Seiten des Lebens in der Kolonie zu erwähnen. „Wenn ich jetzt an früher denke, dann nur an die schönen Begegnungen. Ich glaube, dies ist ein guter Selbstschutz für mich“, sagt Eva Maria Laube Laib. Sogar die „Rebellin“ Renate Malesse erzählt, dass sie auch schöne Zeiten erlebt habe. Das scheint ein Widerspruch zu den geschilderten Grausamkeiten zu sein, aber die Kritik der Frauen richtet sich vor allem gegen Paul Schäfer und den fehlenden Widerstand der ersten Generation. Nicht alles in der Colonia Dignidad sei schlecht gewesen so der Tenor. Viele Frauen wohnen weiterhin auf dem Gelände, heute bekannt als Villa Baviera. Wie sie heute mit dem Erlebten umgehen und wie die Vergangenheit ihre Zukunft und die ihrer Kinder geprägt hat, ist ein weiterer Schwerpunkt der Gesprächsprotokolle.

Ein wichtiges Buch

Manche der 15 Berichte bleiben oberflächlich, andere gehen so sehr ins Detail, dass sie nur schwer zu ertragen sind. Jedes einzelne Protokoll umfasst circa 20 Seiten, meistens ohne Interview-Fragen oder Anmerkungen der Autoren. Private Bilder illustrieren die Texte, die die Gefühle und Eindrücke der Frauen authentisch wiedergeben. Manche Ausführungen sind etwas lang geraten oder holprig formuliert. Das sollte Interessierte jedoch nicht abhalten, das Buch in die Hand zu nehmen. Die Leserinnen und Leser bekommen einen intimen Blick in das Innenleben der Gemeinschaft aus der Sicht der Frauen. Das ist teils widersprüchlich, teils unreflektiert, jedoch ehrlich. Wer keine Kenntnisse über die Colonia Dignidad hat, erhält in der Einleitung Informationen über die Gründung und die Geschichte der Sekte sowie über die sie prägenden Personen. Für Experten offenbart das Buch keine bahnbrechenden Neuigkeiten. Die Autoren legen jedoch den Schwerpunkt auf einen oft vernachlässigten Punkt: das Leiden und Wirken der Frauen in der Colonia Dignidad. Ein wichtiges Buch.

Autor: André Wielebski

"Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad" ist im Schmetterling Verlag erschienen und kostet 29,80 Euro.

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