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Brasilien |

Momente der Utopie

Wie diese Jungs kennen viele Brasilianer die Liebe zum Ball. Der Uruguayer Galeano schreibt darüber. Foto: Bastian Henning/Adveniat.
Wie diese Jungs kennen viele Brasilianer die Liebe zum Ball. Der Uruguayer Galeano schreibt darüber. Foto: Bastian Henning/Adveniat.

Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien, und zunehmend steht das Land im medialen Rampenlicht - nicht nur in der Tagespresse, sondern auch in Fachzeitschriften und Büchern.

Anlässlich des größten Sportevents in der Welt geht es darin auch um den eigentümlichen Fußball des Landes. Brasilien ist schließlich nicht nur fünffacher Weltmeister und mit dem "futebol arte" Ursprungsort einer ausgesprochen kunstfertigen Spielweise, sondern der Fußball gilt hier auch als nationales Ritual - als eine Form, in der sich die Menschen eine Geschichte über sich selbst erzählen und Mythen im Sinne einer "invention of tradition" (E. J. Hobsbawm) entwerfen.

Fußball: Quelle der Identität

In seinem Aufsatz "Brasilien. Land des Fußballs - Debatten über einen identitätsstiftenden Mythos" in der Zeitschrift iz3w widmet sich Thomas Fatheuer jenen Theorien, die einen besonderen Stellenwert des Fußballs für Brasilien behaupten. Denn in der intellektuellen Debatte über das Selbstverständnis des größten Landes Lateinamerikas hat es immer wieder Versuche gegeben, dem Fußball eine zentrale Rolle für die Entwicklung einer nationalen Identität zuzuweisen. Fatheuer führt als Kronzeugen Roberto da Matta an, den wohl bekanntesten Anthropologen Brasiliens. Dieser hat den Fußball neben dem Karneval und der Volksreligiosität als wesentliche Quelle "unserer sozialen Identität" ausgemacht - im Unterschied zu den Ländern in Europa und Nordamerika, wo zentrale Institutionen wie die Verfassung prägender waren.

Allerdings räumt Fatheuer ein, dass Brasilien sich inzwischen zu einer "gefestigten Nation, einer Wirtschaftsmacht" entwickelt habe, so dass der Fußball nicht mehr "gleich mit der Last der nationalen Identität" beladen werde und stattdessen zum "großer Kommunikator" geworden sei. Im allgegenwärtigen Reden über Fußball - vor allem in der "ewigen Debatte" über "futebol arte" versus Erfolgsfußball - verständigen sich demnach "Millionen Menschen über ihr Selbstverständnis als Nation und als Fußballfans".

Und obwohl der Druck des Erfolges gerade bei der WM im eigenen Lande auf der "seleção", der brasilianischen Nationalmannschaft, lastet und das Opfer einer Ergebnisorientierung geradezu verlangt, enthält das "hartnäckige Festhalten an einem besonderen Fußball" laut Fatheuer immerhin einen Hoffnungsschimmer: "Im Aufblitzen des Lustfußballs sind Momente einer Utopie bewahrt."

Der "Straßenköter-Komplex"

Ausführlicher beleuchtet der in Brasilien lebende deutsche Anthropologe Martin Curi ähnliche Fragestellungen in seinem Buch "Brasilien - Land des Fußballs". Curi diagnostiziert darin anhand des Fußballs, dass das Land zwischen "völliger Selbstüberschätzung auf der einen Seite und einer Selbstzerfleischung auf der anderen Seite lebt". Gerade im Vierjahresrhythmus der WM's werde diese "radikale Sichtweise", die "nur Sieg oder Niederlage und nichts dazwischen kennt", virulent. Curi stellt dabei die vom Dramatiker Nelson Rodrigues geprägte These des "Straßenköter-Komplexes" in den Mittelpunkt: "Der Brasilianer kann den Brasilianer nicht ausstehen. Oder anders gesagt: Der Unterentwickelte hat etwas gegen Unterentwickelte", so Rodrigues 1970.

Für Curi ist dieses Denken bis heute nicht gänzlich überwunden: "Der rote Faden bei dieser Mythenbildung ist, dass man sich selbst als minderwertig wahrnimmt und auf dem Fußballplatz ständig das Gegenteil beweisen will." In seinem lesenswerten Buch spürt Curi daneben unter anderem auch der von deutschen Emigranten geprägten Fußballgeschichte Südbrasiliens nach und porträtiert in knappen Kapiteln die zwölf WM-Städte und ihre jeweilige Fußballkultur.

Die Liebe zum Ball

Das literarisch wohl schönste Buch über den brasilianischen Fußball ist und bleibt aber Eduardo Galeanos "Der Ball ist rund". Dabei ist das unlängst in einer erweiterten, bis zur WM 2010 reichenden Neuauflage erschienene Buch keines, das allein vom Fußball am Zuckerhut handelt. Stattdessen erzählt es in zahlreichen Miniaturen die Geschichte des Fußballs von seinen Anfängen bis heute. Der Entwicklung des brasilianischen "jogo bonito", dem der Uruguayer Galeano aus ästhetischen Gründen zugeneigt ist, räumt er aber viel Raum ein - dem klassischen Rio-Derby "Fla-Flu" (Flamengo-Fluminense) ebenso wie dem Kern der brasilianischen Fußballbegeisterung: der Liebe zu "a bola", dem Ball. "Ich behandelte sie genauso zärtlich wie meine eigene Frau", so Didí, Weltmeister von 1958, über die Lederkugel.

Galeano schreibt aber auch darüber, wie der Mulatte Artur Friedenreich 1919 zum ersten dunkelhäutigen Starspieler im Nationaltrikot wurde - in einer Sportart, die vorher seinen hellhäutigen Landsleuten vorbehalten war: "In den feierlichen Ernst weißer Stadien brachte Friedenreich die frech vergnügte Unbotmäßigkeit der kaffeebraunen Jungen, die ihren Spaß dabei haben, in der Vorstadt einen Ball aus Lumpen zu treten. So wurde ein neuer Stil geboren, der offen ist für Fantasie und der die Lust am Spiel über das Ergebnis stellt."

WM: Nicht nur Fußball steht im Mittelpunkt

Allerdings scheint die Blütezeit des brasilianischen "futebol arte" vorbei zu sein - und das vielleicht für immer. So hat der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, ein großer Sportfan und Brasilien-Kenner, in einem Interview mit der Zeitschrift Kulturaustausch gemutmaßt, dass es "kein Zurück zu den fünfzig Jahren der absoluten Ausnahmestellung Brasiliens im Fußball" geben werde. Denn der "technisch virtuose, etwas barocke Fußball" Brasiliens - als Ausdruck "eines romantischen nationalen Selbstbildes" -, der "die Spieler so genial aussehen ließ, als ob sie gar nicht trainieren müssten", sei angesichts der Entwicklung "zum One-Touch Soccer, zum athletischen Fußball" allein kein Garant mehr zum Erfolg.

Sollte Brasilien tatsächlich nicht die erhoffte "Hexa" erringen, den sechsten Weltmeistertitel, könnte das schwerwiegende Auswirkungen haben - und das nicht nur für die brasilianische Volkspsyche. Denn gerade wenn die "Kanarienvögel" frühzeitig ausscheiden, dürfte das neuen Massenprotesten [gegen Korruption und für bessere staatliche Dienstleistungen] großen Auftrieb geben. So könnte es die erste WM in der Geschichte werden, bei der für die Brasilianer nicht allein der Fußball im Mittelpunkt steht.

Autor: Ole Schulz

Literatur:

iz3w: Eigentor Brasilien - vom Elend eines Global Players, Ausgabe 340, Jan./Feb. 2014

Martin Curi: Brasilien - Land des Fußballs. Verlag Die Werkstatt 2013, 352 Seiten, 19,90 EUR

Eduardo Galeano: Der Ball ist rund. Unionsverlag 2014, 304 Seiten, 14,95 EUR

Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven: Brasilien - alles drin. 63. Jahrgang, I/2013

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