Lateinamerika will Russland ernähren
"Dies ist eine Revolution für den brasilianischen Export von Fleisch, Mais und Soja", erklärte Seneri Paludo, Staatssekretär im brasilianischen Agrarministerium, gegenüber der brasilianischen Nachrichtenagentur "Agencia Brasil". "Der Boykott Putins öffnet ein großes Fenster für Brasilien".
Für den Staatssekretär bedeuten die Handelseinschränkungen Russlands gegenüber den USA, Kanada, Norwegen, Australien und der EU einen Richtungswechsel. "Der Boykott könnte ähnliche Auswirkungen haben wie der Eintritt Chinas in die WTO, der 2001 ein Erdbeben auf dem Rohstoffmarkt auslöste“, so Paludo.
Freundlicher Empfang in Buenos Aires
Erst vor einem Monat empfing Lateinamerika Russlands Präsident Putin mit offenen Armen. Putin reiste nach Kuba, Argentinien und Brasilien, um die alten Beziehungen zur Neuen Welt aufzufrischen. In Brasilien schaute er sich das WM-Finale an und nahm anschließend an dem Gipfeltreffen der BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika teil.
Auf dem BRICS-Gipfel in Fortaleza (15.7.2014) vereinbarten die fünf Staatschefs unter anderem, den Handel innerhalb des Wirtschaftsblocks der aufstrebenden Schwellenländer zu intensivieren. Dass diese Entwicklung nun durch die Ukrainekrise schneller vorankommt als geplant, löst in Lateinamerika Überraschung, aber auch Optimismus aus.
"Brasilien ist auf die wachsende Nachfrage von Schweine- und Geflügelfleisch in Russland vorbereitet", kündigt Ricardo Santin, Vizepräsident des brasilianischen Verbands für Tierproteine (Abpa), an. "Wir können innerhalb eines kurzen Zeitraums die Produktion erhöhen ohne den einheimischen Markt zu vernachlässigen".
Brasilien als globaler Nahrungsmittelproduzent
Nach Angaben des Verbandes wurden 2013 insgesamt 60.000 Tonnen Geflügelfleisch von Brasilien nach Russland exportiert. Nun soll die Ausfuhr auf 150.000 Tonnen jährlich aufgestockt werden. Schon jetzt gehört Brasilien nach Angaben des Ministeriums für Außenhandel (Mdic) zu den größten Lieferanten von Rind- und Schweinefleisch weltweit.
Mit einer Lebensmittelausfuhr in Höhe von 2,41 Milliarden US-Dollar war Brasilien 2013 der zweitgrößte Nahrungsmittellieferant Russlands. An erster Stelle steht mit 2,74 Milliarden US-Dollar der in einer Zollunion mit Russland verbundene Nachbarstaat Weißrussland.
Brasilien lag damit im Exportranking vor den USA, die im vergangenen Jahr Lebensmittel und Agrarprodukte in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar nach Russland exportierten. Die Nahrungsmittelexporte der 28 Mitgliedsstaaten der EU nach Russland summierten sich 2013 auf knapp 16 Milliarden US-Dollar.
Nach Einschätzung des Ökonomen Samy Dana von der Universität "Fundação Getúlio Vargas" in São Paulo werden die russischen Sanktionen gegen die EU und USA dazu beitragen, die brasilianischen Exporte zu beflügeln. "Brasilien muss diese Gelegenheit nutzen, um den russischen Markt zu erobern und seine Produktpalette zu erweitern", sagt er. "Die Sanktionen gelten schließlich nicht für immer".
Meeresfrüchte aus Chile und Ecuador
Moskau hat auch die lateinamerikanischen Länder Argentinien, Chile und Ecuador aufgefordert, ihre Exporte nach Russland zu erhöhen. Nach argentinischen Medienberichten wird Chile seinen Export von Rindfleisch, Milchprodukten und Meeresfrüchten erhöhen. Aus Ecuador wird Russland mehr Obst und Gemüse und ebenfalls Meeresfrüchte einführen.
Im krisengeschüttelten Argentinien hoffen Sojaproduzenten aufgrund der steigenden Nachfrage auf Preiserhöhungen. Die Regierung in Buenos Aires kündigte zudem an, zusätzlich mehr Getreide, Rindfleisch und Milchprodukte nach Russland exportieren zu wollen. Uruguay hatte seine Ausfuhr von Rindfleisch bereits vor dem Boykott erhöht. Nach offiziellen Angaben stieg die Ausfuhr von Rindfleisch im Juli 2014 um 19,7 Prozent im Vergleich zum selben Monat des Vorjahres.
Für den Politologen Victor Mijares vom Giga-Institut in Hamburg könnte die stärkere Präsenz lateinamerikanischer Agrarprodukte in Russland dazu führen, dass die Länder aus der Region auch eine politische Aufwertung erfahren. "Nahrungsmittel entwickeln sich zunehmend zu Konsumgütern, von denen die weltweite Stabilität abhängt", meint Mijares.
Das Wort "Rohstoffproduzent" habe mittlerweile keine abschätzende Bedeutung mehr, denn, so Mijares, "Nahrungsmittel und Energie sind und werden im 21. Jahrhundert entscheidend für die Entwicklung eines Landes sein."
Autoren: Clarissa Neher/Evan Romero
Quelle: Deutsche Welle