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Mexiko |

Interview: "Jede Einzelne zählt!"

Imelda Marrufo aus Ciudad Juárez, Mexiko, wird für ihr Engagement gegen Gewalt an Frauen mit dem Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung ausgezeichnet. Foto: Annika Börm.
Imelda Marrufo aus Ciudad Juárez, Mexiko, wird für ihr Engagement gegen Gewalt an Frauen mit dem Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung ausgezeichnet. Foto: Annika Börm.

Imelda Marrufo war 18 Jahre alt und hatte gerade mit ihrem Jurastudium angefangen, als die ersten verstümmelten Frauenleichen in Ciudad Juarez gefunden wurden. Seit den 90er-Jahren sind in der Wüstenstadt an der Grenze zwischen Mexiko und den USA hunderte von Frauen und jungen Mädchen verschwunden, bis heute ist kaum etwas über die Täter und Hintergründe bekannt.

Gemeinsam mit dem 2001 von ihr gegründeten Frauen-Netzwerk "Red Mesa de Mujeres" bekämpft die Juristin Imelda Marrufo diese Gewalt, versucht in der von Drogenkrieg, Armut und Korruption gebeutelten Stadt Zukunftsperspektiven für Frauen zu schaffen. Für dieses Engagement hat ihr die Heinrich-Böll-Stiftung den diesjährigen Anne-Klein-Frauenpreis verliehen. Zur Preisverleihung wird Imelda Marrufo selbst Anfang März nach Berlin reisen.

Señora Marrufo, der Anne-Klein-Frauenpreis ist mit 10.000 Euro dotiert ist. Wofür möchten Sie und Ihre Organisation das Preisgeld verwenden?

Imelda Marrufo: "Ich glaube, das Geld ist unserem Fall gar nicht das wichtigste. Wir haben Kosten, aber die können wir abdecken - und die meisten von uns arbeiten ehrenamtlich. Aber der Preis ist wichtig für unsere Motivation, für unsere Teamarbeit. Er macht den Erfolg unserer Arbeit sichtbar. Es gibt hier, wenn Sie mir erlauben es so auszudrücken, keine Politik die sich um den Zugang zu Gerechtigkeit kümmert. Es gibt immer nur kurzfristige Maßnahmen, die sich bei jedem Regierungswechsel wieder ändern. Die einzigen, die kontinuierlich an einer Verbesserung dieser Stadt arbeiten, sind wir, die zivilen Organisationen."

Die Situation in Ciudad Juarez, so der allgemeine Eindruck, scheint sich verbessert zu haben. Sehen Sie das auch so?

Imelda Marrufo: "Das kommt darauf an, welchen Indikator wir verwenden. Was bedeutet Verbesserung? Die Mordrate ist seit 2010 stark gesunken, das ist richtig. Was aber die Entwicklung im sozialen Sektor angeht - also, dass die Menschen mehr Arbeit haben, besser bezahlt werden, Aufstiegschancen bekommen - da haben wir den Eindruck, dass die Lage schlechter geworden ist. Das hat mit einer Wirtschaftspolitik zu tun, die wir seit dem vergangenen Jahr haben und die sich gegen die Bevölkerung richtet. Die Leute erleben gerade, dass es immer schwieriger wird mit dem bisschen Geld, das sie jede Woche verdienen, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Schwieriger als in den vergangenen Jahren, weil die Steuern erhöht wurden. Und nur weil es jetzt weniger Morde in Ciudad Juarez gibt, heißt das noch lange nicht, dass die Hotels voller Gäste sind oder sich neue Unternehmen ansiedeln würden."

Wie wirkt sich diese Armut auf das Engagement von Red Mesa de Mujeres aus?

Imelda Marrufo: "Die Leute sagen: 'Ich habe keine Zeit, mitzumachen. Ich muss jede Art von Arbeit annehmen, die mir Geld einbringt, um meine Ausgaben zu bezahlen.' Das ist ein riesiges Problem für die gesellschaftliche Mitbestimmung. Die Menschen hören auf, sich sozial zu beteiligen, wenn sie nicht genug zu essen haben. Ich weiß, dass manche meiner Mitstreiterinnen Probleme haben, die Lebensmittel für eine Woche zu kaufen, oder auch Medikamente. Ich spreche von ganz basalen Dingen."

Was ist einer der Erfolge, den Sie und Ihre Organisation bisher erzielt haben?

Imelda Marrufo: "Wir fordern seit 2005 ein Frauenzentrum in Ciudad Juarez. Vor eineinhalb Jahren wurde ein solcher Ort eingerichtet. Wir haben dort ein kleines Büro für unser Programm Defensoras Comunitarias (Verteidigerinnen der Gemeinschaft) eingerichtet. Wenn eine Frau bedroht oder misshandelt wird und nicht weiß, was sie tun soll, dann kann sie sich jederzeit an diese ehrenamtlichen Anwältinnen wenden. Wir bilden diese Freiwilligen in Seminaren aus. In dem Projekt arbeiten Hausfrauen mit, auch Studenten, ganz unterschiedliche Menschen - das ist ein wichtiger Fortschritt."

Macht es denn überhaupt angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Probleme überhaupt noch Sinn, auf Gerechtigkeit für die Opfer der Frauenmorde zu beharren?

Imelda Marrufo: "Gerechtigkeit ist eine der alten Forderungen unserer Stadt. Angesichts der massiven Gewalt, die hier stattfand, auch in den Fällen der verschwundenen und ermordeten Frauen. Wir haben über die Jahre hinweg viele Anzeigen erstattet: Vergewaltigungen, Morde, Entführung, Frauenhandel. Aber die Straflosigkeit, die impunidad ist in ganz Lateinamerika und besonders in Chihuahua ein Problem, wie auch die Defizite bei den Institutionen, die sich eigentlich um die Ermittlungen kümmern sollten. Der Bundesstaat und das ganze Land haben eine große Rechnung mit den Frauen in dieser Stadt offen."

Wie könnte diese Rechnung beglichen werden?

Imelda Marrufo: "Du als Person hast ein Recht darauf zu leben. Und wenn jemand dich oder deine Tochter tötet, dann ist dir Ungerechtigkeit wiederfahren. Ein Aspekt ist, dass der Mörder eingesperrt wird. Aber die Mütter sagen: 'Ich will, dass meine Tochter wieder lebt. Wer kann das wiedergutmachen, dass ich sie nicht mehr habe?' Ich habe nicht das Gefühl, dass wir in diesen Fällen noch Gerechtigkeit erlangen können. Aber wenn wir es schaffen, dass keine einzige Frau mehr verschwindet, vergewaltigt oder getötet wird - das wäre Gerechtigkeit. Und daran erinnern wir auch mit unserem Slogan Ni una más - nicht ein einziges Opfer mehr. Es geht um jede einzelne Person. Jede Einzelne hat ein Gesicht, eine Familie, ein Lachen und eine Hoffnung - jede Einzelne zählt."

Autorin: Maria Johanna Birkmeir

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