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Bolivien |

Interview: "Die Regierung in Bolivien hat die Frauen und die Mädchen im Stich gelassen"

Ein brutaler Sexualmord an einer Neunjährigen hat Bolivien in Aufruhr versetzt. Die Frauenrechtlerin Mónica Novillo spricht im Interview über die Gefahren für Frauen und Kindern während der Corona-Quarantäne, eine hohe Dunkelziffer und institutionelles Versagen. 

Frauen werden in Bolivien häufig Opfer sexueller Gewalt (Symbolbild). Foto: Pixabay   

Mónica Novillo (47) von der Coordinadora de la Mujer, einer Dachorganisation von Frauenrechts-Organisationen in Bolivien. Sie ist seit 2014 Direktorin der Coordinadora, Kommunikationswissenschaftlerin und Frauenrechtlerin. Sie stammt aus Cochabamba.

Am 5. Juli starb in El Alto, der über La Paz liegenden zweitgrößten Stadt Boliviens, die neunjährige Esther. Sie wurde vergewaltigt, erdrosselt und wie Abfall in einer Straße abgelegt. Daraufhin kam es zu Protesten, medialem Aufsehen und schließlich zur Verurteilung des Täters. Sind Kinder in der Pandemie besonders gefährdet?

Es ist definitiv kein Einzelfall, aber die Tatsache, dass der Täter, das Mädchen wie Müll auf die Straße geworfen hat, hat für Entsetzen und Empörung gesorgt. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf Kinder- wie Frauenmorde mit einem sexuellen Hintergrund und es zeigt, welche Risiken Kinder und Frauen in der Quarantäne ausgesetzt sind. In den 72 Tagen der rigiden Quarantäne mit Ausgangssperre, die am 22. März verfügt wurde, hat es unseren Informationen zufolge jeden Tag sieben Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern gegeben – insgesamt rund fünfhundert Fälle.

Sind die Zahlen von Kindesmissbrauch mit der Quarantäne gestiegen?  

Nein, die Zahl der Gewalttaten an Kindern und Frauen sind generell sehr hoch, aber wir sind sicher, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist. Der eigene Haushalt ist für viele Frauen und Kinder schlicht nicht sicher. Sie sind den potentiellen Tätern aus der eigenen Familie quasi ausgeliefert, aber viele Fälle werden nicht angezeigt.

Gehörte der Vergewaltiger und Mörder von Esther auch zur eigenen Familie?

Nein, aber er lebte im Haus der Familie, war Untermieter und den Gerichtsmediziner zufolge hat er die Neunjährige bereits zuvor missbraucht. Es ist ein besonders schockierendes Verbrechen, aber die landesweite Dunkelziffer dürfte hoch liegen, weil die Frauen während der Quarantäne kaum Möglichkeiten hatten Missbrauch anzuzeigen.

Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen die Ausgangssperre, die es auch verhinderte zur nächsten Polizeiwache zu gehen, zum anderen waren viele Polizisten nicht in den Dienststellen, sondern auf der Straße, um die Einhaltung der Quarantäne zu überwachen - darunter eben auch die für Vergewaltigungsfälle qualifizierten Beamten. Das ist genauso ein Defizit wie die Tatsache, dass lange nicht alle Frauen die Notfallnummern kennen.

Wie reagiert die Politik? Morde an Frauen und Kindern im Kontext sexueller Gewalt sind in Bolivien ein gravierendes Problem. Das Land hat bei Frauenmorden in Lateinamerika höhere Zahlen als Brasilien – bezogen auf die Gesamtbevölkerung.

Am 8. März hat die Interims-Regierung von Jeanine Áñez 2020 zum Jahr des Kampfes gegen die Frauenmorde deklariert. Am 22. März erfolgte die Verhängung der Quarantäne kombiniert mit einer Ausgangssperre und mir ist nicht bekannt, dass es konkrete Schritte wie ein Präventionsprogramm gegeben hätte. Schon eine Kampagne im Vorfeld der Quarantäne, mit Informationen und Notrufnummern hätte durchaus helfen können. Genauso wie die Gewährleistung der Verfügbarkeit der spezifisch geschulten Beamten – das alles lässt den Eindruck entstehen, dass der Schutz der Frauen und Kinder nicht gerade ganz oben auf der Prioritätenliste stand. Die Regierung hat die Frauen und Mädchen im Stich gelassen.

Sollte eine Frau an der Spitze einer Interimsregierung, die darüber hinaus für die Präsidentschaftswahlen im  September kandidiert, nicht etwas engagierter für Frauenrechte eintreten?

Ja, das denke ich schon, aber die Regierung hat es bei Rhetorik, bei schönen Worten belassen, obwohl sie sich der Risiken bewusst war und wie in vielen anderen Ländern vor intrafamiliärer Gewalt gewarnt hat. Auch die Sozialpolitik der Regierung während der Pandemie lässt zu wünschen übrig: Unterstützung für alleinerziehende Mütter, für Rentner und andere besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen war weder ausreichend noch flächendeckend.

Ein massiver Widerspruch angesichts der Realität des Landes mit einer hohen Mordquote an Frauen....

Ja, aber nur weil an der Spitze des Landes eine Frau steht, heißt es noch lange nicht, dass sie für Frauenrechte eintritt. Leider.

Zahlen der Staatsanwaltschaft zufolge starben im ersten Halbjahr des Jahres 59 Frauen aufgrund ihre Geschlechts – oftmals von der Hand des eigenen Partners. Vor sieben Jahren hat die Regierung Boliviens ein Gesetz gegen Frauenmorde verabschiedet und ihre Rechte klar definiert. Greift es nicht?

Das Gesetz definiert das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt und es ist ein progressives, umfassendes Gesetz, dessen Implementierung jedoch zahlreiche Schwächen aufweist. Zum einen wurden nicht die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt, um Präventionsmaßnahmen auf den Weg zu bringen – ein von insgesamt vier Kernbereichen des Gesetzes. Defizite gibt es aber auch auf institutioneller Ebene – so sind die auf Gewalt gegen Frauen spezialisierten Staatsanwaltschaften nur partiell gegründet worden, auch bei der Polizei und bei den Gerichten gibt es Defizite, so dass das Gesetz nicht den Effekt gehabt hat, den es hätte haben können.

Nach wie vor gehen zu viele Gewalttaten gegen Frauen straffrei aus, die Verfahrensdauer ist extrem lang und auch der Umgang mit den Tätern, deren psychologische Betreuung und deren Reintegration in die Gesellschaft kommt kaum vom Fleck..

In Bolivien stehen für den 6. September Präsidentschaftswahlen an – welche Bedeutung haben Konzepte gegen die Gewalt gegen Frauen in den Programmen der Parteien?

Die Programme der Parteien liegen seit März auf dem Tisch, aber sie werden dem Problem der Gewalt gegen Frauen nicht gerecht – da gibt es Nachholbedarf.

Wie werden Frauen in Bolivien wahrgenommen – sie spielen in der Wirtschaft des Landes eine immer wichtigere Rolle. Hat  sich die Wahrnehmung der Frau verändert, tragen die Parteien?

Die Frauen sind in der Ökonomie Boliviens, aber auch in der Politik deutlich aktiver, aber das schlägt sich in der öffentlichen Wahrnehmung kaum nieder. Weder in der Medienberichterstattung noch im politischen Alltag. Das ist ein Widerspruch und wir als Coordinadora, der 21 Frauen-Organisationen angehören, weisen darauf immer wieder hin.

Das Gespräch führte Knut Henkel

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