Interview: Boliviens Tragödie
Bolivien will trotz Corona-Pandemie im September einen neuen Präsidenten wählen. Der Soziologe Marco A. Gandarilla hat seine Zweifel daran, ob das wirklich gelingt. Im Interview spricht er über die Lage in seinem politisch extrem gespaltenen Heimatland.
Marco A. Gandarillas (1979) ist Soziologe und ehemaliger Direktor des Dokumentations- und Informationszentrums CEDIB. Das Zentrum begleitet indigene Gemeinden bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer Ressourcen und engagiert sich für die Verteidigung der Menschenrechte. Gandarillas stammt aus Cochabamba, lebt in La Paz und arbeitet mittlerweile als Analyst für das Bank Information Center, eine NGO mit Sitz in Washington.
Bisher scheint Bolivien relativ gut durch die Pandemie gekommen zu sein- trügt der Eindruck?
Die Zahlen in Bolivien sind trügerisch, denn Bolivien hat nur sehr geringe Testkapazitäten. Sie reichen noch nicht einmal aus, um Patienten mit Symptomen zu testen, sodass sie mittlerweile als Covid-19-Patienten in die Statistiken eingehen – dadurch hat sich die Zahl der Infektionen nach oben bewegt.
Derzeit hat das Land rund 31,500 Infizierte gemeldet und 1014 Tote. Im Vergleich mit anderen Ländern wie Peru erscheint das trotzdem relativ gering, oder?
Oberflächlich betrachtet ja, aber in Bolivien gehen die Menschen kaum mehr ins Krankenhaus, weil die Zustände verheerend sind und es große Angst gibt sich dort anzustecken und dann in eine Quarantäne-Station gesteckt zu werden, wo die Bedingungen sehr prekär sind.
Landesweit ist von einer hohen Dunkelziffer von Infizierten wie bei Toten auszugehen – es gibt viele Indizien für eine hohe Übersterblichkeit. Es gibt Berichte aus Städten wie Trinidad, einem Hot-Spot der Pandemie, wo offiziell 200 Toten registriert sind, aber einer von zwei Friedhöfen hat bereits mehr als 500 Bestattungen vornehmen müssen. Und das ist nur eine Stadt Boliviens, in an deren sieht es nicht besser aus.
Wie beurteilen Sie die Politik der Regierung – verfolgt sie ein Konzept, das greift?
Bolivien hat schnell reagiert. Am 12. März wurde der erste Infizierte diagnostiziert und die Regierung hat relativ schnell mit ersten Maßnahmen reagiert – darunter Schulschließungen. Am 25. März erfolgte dann der Lockdown mit Ausgangssperre. Man kann der Regierung also nicht vorwerfen zu langsam reagiert zu haben, aber sie hat es verpasst, dass prekäre Gesundheitssystem auf die Pandemie vorzubereiten. In Bolivien gibt es kein Sozialversicherungssystem, die öffentliche Infrastruktur ist defizitär und es fehlt überall an Fachpersonal. Ein Beispiel in Trinidad, einer Stadt mit 300.000 Einwohnern, gibt es nur einen Intensivmediziner – einen! Ein Beispiel, das zeigt, dass die Katastrophe absehbar war, die sich immer mehr abzeichnet. Es ist als, ob man von einem Beinamputierten verlangen würde einen Marathon zu laufen.
Hinzu kommt eine politisch ausgesprochen brisante Situation, wirkt sich die aus?
Ja, definitiv. Zwei Gesundheitsminister sind in den letzten drei Monaten zurückgetreten, das illustriert die Probleme. Einer von ihnen wegen Korruption im Kontext des Kaufes von medizinischem Gerät und Schutzmaterialien. Das hat dazu beigetragen, dass viele Bolivianer das Vertrauen in die Regierung verloren, gegen die Quarantäne verstoßen haben und sich von der Regierung wenig bis gar nicht vertreten fühlen. Hinzu kommt die Tatsache, dass rund 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor arbeitet, über keine Sozialversicherung verfügt und rausmuss, arbeiten muss, um das Geld für die Ernährung der Familie zu erwirtschaften.
Das gravierendste Problem derzeit ist die Krisis im Bestattungswesen. Die Zahl der Toten übersteigt die Kapazität der Bestattungsunternehmen und die Regierung ist darauf nicht vorbereitet, hat keine weiteren Maßnahmen initiiert und steht in der Verantwortung. Die Leichen müssen abgeholt, die Krematorien ausgebaut werden zusätzliche Kapazitäten geschaffen werden.
Angesichts dieser Situation – wie realistisch ist es die Durchführung der für 6. September terminierten Präsidentschaftswahlen, die wegen handfester Indizien für Wahlbetrugs im Oktober letzten Jahres für ungültig erklärt wurden?
Die Tragödie Boliviens ist, dass wir uns in einer gravierenden politischen Krise Befinden, die Gesellschaft ist stark polarisiert und die Morde im Kontext der Auseinandersetzungen im Oktober und November letzten Jahres sind bis heute nicht aufgeklärt. Das gilt sowohl für den Einsatz der Schusswaffe durch Militärs und Polizei, als auch für die Heckenschützen, die auf friedliche Demonstranten schossen.
In dieser stark polarisierten Situation hat die Pandemie dafür gesorgt, dass die eigentlich für Mai vorgesehen Präsidentschaftswahlen erneut aufgeschoben wurden. Aufgrund des politischen Drucks von vielen Seiten gibt es nun den neuen Wahltermin, aber es gibt viele Zweifel, ob diese Wahl wirklich durchführbar ist, denn wir haben die Pandemie nicht überstanden, wir leben mit der Pandemie und das Gros der Menschen hat genug damit zu tun zu Überleben. Da bleibt kaum Zeit sich mit Kandidaten, Konzepten und der politischen Zukunft des Landes zu beschäftigten, zumal sich zwei politische Lager unversöhnlich gegenüberstehen.
Gibt es eine Chance, dass die Wahlen Bolivien aus dieser politischen Polarisierung herausführen?
Ich denke nicht. Ich sehe keine Kandidaten, die für einen politischen Konsens stehen könnten. Zudem ist das Risiko der Wahlmanipulation, der Wahlfälschung auf allen Ebenen nach wie vor präsent – das Vertrauen in die staatlichen Strukturen ist beschädigt.
Seit sieben Monaten regiert Bolivien eine Interimsregierung, deren Aufgabe es ist die Wahlen durchzuführen – nicht mehr. Wie lautet Ihre Bilanz der Regierung Jeanine Áñez?
Die Bilanz und die Performance der Interimsregierung ist extrem mies, denn sie hat es versäumt einen Dialog mit der Opposition zu führen. Das trägt zur Polarisierung bei. Zudem hat diese Regierung keinen politischen Rückhalt, sie ist weitgehend isoliert, hat kein parlamentarisches und parteipolitisches Fundament – außerhalb der erzkonservativen Kreise in Santa Cruz. Außerdem hat die Kandidatur der Interimspräsidentin Jeanine Áñez für die Präsidentschaft die Polarisierung im Lande weiter verschärft - sie hat sich in einen Interessenskonflikt begeben.