Ein Sommer mit den Kolla
Der Dokumentarfilm „Sonnensystem“ von Thomas Heise ist jüngst in Berlin uraufgeführt worden. Er nimmt eine indigene Gemeinschaft in den Anden in den Blick und ist von großer poetischer Kraft.
Ein mächtiges Gewitter zieht über das Dorf. Es bringt Blitz, Donner und gewaltige Wassermassen. Aber das Dorf Santa Cruz im Norden der argentinischen Provinz Salta hält den Elementen stand. Seine Häuser sind winterfest gemacht, seine Bewohner überwintern im Tal. Erst ein paar Wochen später kehren sie zurück, um die Sommermonate in der auf 3.500 Metern Höhe gelegene Heimat zu verbringen.
Santa Cruz ist ein indigenes Dorf. Seine Bewohner sind Kolla, Angehörige einer der rund 30 Ethnien in Argentinien. Sie leben zumeist in den Anden, weit ab von den Zentren der europäischstämmigen Mehrheitsgesellschaft. Ihr Leben ist geprägt von Traditionen, die sich allmählich mit modernen Elementen vermischen. Fernsehgeräte und die nötigen Dieselaggregate sind vorhanden. Zu Dorffesten tragen sie furchteinflößende Masken, doch sind diese inzwischen aus industriell produziertem Gummi. Sie verehren immer noch Pachamama, auch wenn sie seit Generationen christlich getauft werden. Die Kultur der Kolla ist vorhanden, und doch ahnt man die kommenden Veränderungen.
Genaue filmische Beobachtungen
Der Dokumentarfilmer Thomas Heise konnte die Dorfgemeinschaft mehrere Wochen lang begleiten. Sein aus diesen Beobachtungen entstandener Film „Sonnensystem“ ist von großer poetischer Kraft. Er verlässt sich völlig auf die Aufnahmen, verzichtet auf kommentierende Texte und Interviews mit den Einheimischen. Die Bilder laden zu Assoziationen und zum Nachdenken über das drohende Verschwinden von Gemeinschaften wie der Kolla ein. Am 31. März wurde „Sonnensystem“ in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin uraufgeführt. Die Sitzreihen im großen Theatersaal waren gut gefüllt.
Keine Inszenierungen
Thomas Heise inszeniert das Gezeigte nicht, er ordnet nichts und niemanden an. Sein Kameraauge beobachtet nur. Er sieht beispielsweise von einem Schwenk über den zentralen Dorfplatz ab, durch den die Zuschauer einen ersten Eindruck erhalten könnten. Statt dessen verfolgt die Kamera ein Pferd, das von rechts nach links über die Plaza trottet – vorbei an Gebäuden, einem hölzernen Tor, einzelnen Personen oder kleineren Menschengruppen, dem mit Steinen auf den Hang geschriebenen Wort „Bienvenidos“. Wunderbar beiläufig gelingt dieser Teil der Exposition.
Zusammen leben und zusammen arbeiten
Im Schulgebäude läuft ein Video. Eine große Schar Kinder schaut gebannt zu. Einige sitzen auf Stühlen, andere auf dem Boden, wieder andere schließen im Pulk die Lücken zwischen den Tischen. Die Kamera fängt ihre Gesichter ein, zeigt Tafeln und Bilder, die an der Wand hängen. Auf einer Kinderzeichnung sind Sonne und Planeten mitsamt den elliptischen Bahnen zu sehen. „El sistema solar“ steht in ungelenker Schrift darüber. Dann ein kurzer Blick auf den Bildschirm, der erklärt, was die jungen Zuschauer in den Bann zieht: Ein Dinosaurier-Film.
Die Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten ist eines der Themen des Films. In einer Sequenz sieht man, wie ein Tischler seinem Lehrling – vielleicht seinem Sohn – beibringt, wie das Holz abgemessen und zugeschnitten wird. Beim Schlachten eines Rindes ist die ganze Familie anwesend. Die Kinder schauen beim Entweiden genau zu und übernehmen kleine Aufgaben. Handwerkliche Arbeiten wie das Herstellen von Ziegelsteinen, rituelle Tänze beim Karnevalfest, das Brandmarken der Rinder, eine Andacht in einem dunklen Kirchenraum, das Flottmachen eines umgestürzten Traktors – all dies geschieht in der Gemeinschaft, in kleineren oder größeren Gruppen, mit Jungen und Alten.
Kontrapunkt: Landflucht und Slum
Am Ende des Sommers ziehen die Kolla-Familien von Santa Cruz hinab in ihr Winterquartiere. Bevor sie ihren Bus erreichen, müssen sie den reißenden Fluss durchqueren. Die Jungen nehmen die Alten in die Mitte, die Frauen tragen ihre Kinder, die Männer waten zurück und nehmen weiteres Gepäck auf. Diese Filmszene wirkt wie eine Quintessenz des Alltags in der Kolla-Gemeinschaft: Er lässt sich nur mit gegenseitiger Hilfe bewältigen.
Mit einer großartigen, langen und verlangsamten Kamerafahrt beschließt Thomas Heise seinen Film. Zur Musik des Lacrimosa aus der Totenmesse, das sich auf die zur Kreuzigung Christi vergossenen Tränen bezieht, zieht die Kamera an den Behausungen eines Slums am Rande der Großstadt vorbei. Der Barrio ist umzäunt, die Mauern der kleinen Gebäude wirken farblos und abweisend, es sind kaum Menschen zu sehen. Ein Gegenentwurf zum Leben der Indigenen – und möglicherweise eine Warnung, welcher tränenreichen Zukunft jene Kolla entgegengehen, die sommers nicht mehr nach Santa Cruz hinaufsteigen.
Autor: Thomas Völkner
Es ist noch leider nicht absehbar, ob ein Verleih den Film „Sonnensystem“ in die (Programm-)Kinos bringen wird. Thomas Heise vertreibt den Film ab Mai 2011 auf Blu-ray Disc. Etwas später erscheint er zudem auf DVD in der Reihe „Edition Filmmuseum“.
Weitere Informationen und einen Filmtrailer gibt es auf dieser Internetseite:
http://heise-film.de