Die wundersame Vermehrung der Kronzeugen
Dank einer modernen Kronzeugenregelung gelingt es den Ermittlern, immer tiefer in die Verwicklungen vorzudringen. Obwohl Politik und Wirtschaft aufgrund des Skandals derzeit gelähmt sind, könnte "Lava Jato" die Geburtsstunde eines weniger korrupten Brasilien sein.
Die Bilanz von "Lava Jato" ist bemerkenswert. Mehr als 100 Personen wurden bereits angeklagt, festgenommen, verhört oder verurteilt - darunter führende Persönlichkeiten der politischen Klasse, Wirtschaftsbosse und Manager von Staatsbetrieben. Als Kollateraleffekt versinkt die Wirtschaft in einer Rezession, während das politische System zu implodieren droht.
Der Ermittlungserfolg basiert auf der neuen Kronzeugenregelung. Sie erweist sich als wirksame Waffe. Denn sie übernimmt die Logik der Korrupten, die für ihren Vorteil häufig moralische und rechtliche Grenzen überschreiten. Je mehr Einzelheiten sie offenbaren, je mehr Komplizen sie verpfeifen, desto größer ist ihre Strafminderung.
Ermittlungserfolg dank Kronzeugenregelung
Das 2013 von Präsidentin Dilma Rousseff unterzeichnete Gesetz ist eine Weiterentwicklung einer in den 90er Jahren eingeführten Regelung. Neu ist unter anderem, dass der "Kronzeugenvertrag" ohne Beteiligung des Richters abgefasst wird. Der Angeklagte verhandelt direkt mit der Staatsanwaltschaft, die er zuvor umfassend über seine Kenntnisse informiert. Die Aussage ist Bestandteil des Vertrages. Hat er gelogen, manipuliert oder nicht alles gesagt, ist der komplette Vertrag ungültig. Dann drohen maximale Strafen.
Das Gesetz basiert auf den italienischen Anti-Mafiagesetzen, "ohne deren Mängel übernommen zu haben", so Bundesstaatsanwalt Rodrigo Janot. Die Enthüllungen sind nicht als Beweise zugelassen. Doch sie sparen den Ermittlern "Zeit, Geld und erhöhen die Erfolgsaussichten", so Janot. Statt "erst mal blind verschiedenen Spuren nachzugehen, ist man Dank der Kronzeugenaussagen direkt auf der richtigen."
Koalitionspartner von Rousseff gerät ins Visier
Bisher gibt es rund 30 Kronzeugen. Nachdem die Beteiligung von Unternehmen und Managern von Staatsbetrieben bereits weitgehend aufgedeckt wurde, werden neue Aussagen nun voraussichtlich Politiker ans Messer liefern. Angeblich liefert ein Lobbyist derzeit entsprechende Hinweise auf die Führungsriege der Zentrumspartei PMDB, Rousseffs wichtigstem Koalitionspartner.
Auch der Präsidentin selbst droht Ungemach. Nach Aussage von Kronzeugen sind in die Kampagne für ihre Wiederwahl Ende 2014 umgerechnet rund 4,7 Millionen Euro aus Schwarzen Kassen geflossen. Ließe sich das beweisen, droht Rousseff ein Amtsenthebungsverfahren. Sie und ihre regierende Arbeiterpartei PT spielen in dem Politdrama eine tragische Doppelrolle. Die PT war 2003 unter Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva angetreten, die korrupten konservativen Eliten zu vertreiben. Doch ihre moralische Instanz litt bereits 2005 unter dem sogenannten Mensalao-Skandal. Lulas Leute hatten Parlamentarier bestochen; der Präsident entging knapp dem Amtsverlust.
Moralische Revolution frisst ihre Kinder
Unter Nachfolgerin Rousseff wurden Justiz und Bundespolizei immer aktiver gegen Korruption. Zwar verkaufte die Präsidentin dies anfangs als ihr Verdienst. Nachdem Kronzeugen jedoch die PT und Rousseffs Wahlkampf belasteten, torpedierte die Präsidentin das von ihr erlassene Gesetz: Sie respektiere keine Kronzeugen, sagte sie nun. Schon zuvor hatte sie der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, einseitig zu ermitteln.
Rousseff könnte also über "Lava Jato" stolpern. Die moralische Revolution droht ihre Kinder aufzufressen. Dann hätten die gesellschaftlichen Impulse, die die PT 2003 an die Macht brachten, am Ende doch noch gesiegt. Die Krise könnte Brasilien die Chance bieten, die kulturell verwurzelte Korruption endlich wirksam zu bekämpfen.
Quelle: KNA, Autor: Thomas Milz, Foto: Jefferson Rudy/Agência Senado, CC BY 2.0