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Die Austreibung der alten Dämonen

Der uruguayische Journalist und Schriftsteller Eduardo Galeano (71) gilt als einer der bedeutendsten Intellektuellen Lateinamerikas. 1971 erschien sein Klassiker „Las venas abiertas de América Latina“ („Die offenen Adern Lateinamerikas“). In einem Interview nimmt er Stellung zu den jüngsten politischen Entwicklungen.

Sie haben von einer lateinamerikanischen „Wiederentdeckung“ gesprochen. Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Bolivien hat mit Evo Morales seine Vielfalt wiederentdeckt - mit großer Würde und mit dem Stolz, sagen zu können: „Wir sind unterschiedlich, und wir sind Indigene.“ Sicher, Bolivien ist ein Land wie Paraguay und bis zu einem gewissen Punkt auch Uruguay. Ein Land, das in einem bestimmten Maße dem erdrückenden Gewicht großer Nachbarstaaten unterworfen ist, vor allem dem Brasiliens. Brasilien widersetzt sich zum Beispiel einem Prinzip, wonach in der Bank des Südens (Banco del Sur) jedes Land eine Stimme haben sollte.

Worin besteht die Kraft des Projektes Bank des Südens?

Es handelt sich um die finanzielle Basis der Einheit Lateinamerikas (Anmerkung: derzeit sind die Mitglieder ausschließlich südamerikanische Staaten), ein Projekt von Hugo Chávez, ohne Zweifel. Die Banco del Sur entstand als eine Antwort auf die Diktatur von Internationalem Währungsfonds und Weltbank, also Organisationen, in denen nicht das Prinzip gilt: ein Land, eine Stimme. Wie viele Stimmen ein Land hat, hängt davon ab, wie viel Geld es einzahlt. Was dazu führt, dass der Internationale Währungsfonds von fünf Ländern geführt wird, die Weltbank von acht. Und das, obwohl in den Namen der Organisationen die Wörter „Welt“ und „international“ vorkommen.

Stellen Sie heute einen bedeutsamen Wandel in Lateinamerika fest?

Ja. Es geschieht derzeit etwas sehr Schönes, der Glücksfall eines kollektiven Exorzismus der alten Dämonen. Und auch einiger neuer. Einer der Dämonen, welche das koloniale Erbe hinterließ, war die Kultur der Machtlosigkeit. Sie setzt dir die Vorstellung in den Kopf, dass „es nicht geht“. Das gilt übrigens nicht nur für die armen Länder, sondern auch für die reichen. Venezuela zum Beispiel ist objektiv gesehen ein reiches Land, es hat öl - aber diese Vorstellung der Machtlosigkeit steckt tief drinnen. Gegen sie versucht Venezuela jetzt zu kämpfen. Die Kultur der Machtlosigkeit lehrt dich, nicht mit deinem Kopf zu denken, nicht mit deinem eigenen Herzen zu fühlen, und dich nicht mit deinen eigenen Beinen zu bewegen. Du wirst darauf getrimmt, dich im Rollstuhl zu bewegen, um fremde Ideen zu wiederholen und um Gefühle zu empfinden, die nicht deine eigenen sind.

Und sind die Linken in Lateinamerika anders?

Es gibt von allem etwas, zum Glück, einfach weil wir alle unterschiedlich sind. Es ist sehr ungerecht zu verallgemeinern, besonders wenn die Verallgemeinerung fremden Blicken entstammt. Blicke, die dich beurteilen, und indem sie dich beurteilen verurteilen sie dich. Es gibt einen Überlegenheitskomplex der Länder, welche die Welt beherrschen. Sie meinen, sie hätten das Recht, den anderen Demokratieprüfungen abzunehmen zu können. Sie meinen, sie seien die großen Lehrmeister, die entscheiden, wer ein Demokrat ist und wer nicht, welche politischen Prozesse gut sind und welche schlecht.

Welche Unterschiede gibt es zwischen den Präsidenten von Venezuela, Ecuador und Bolivien?

Viele, weil sie Ausdruck dreier unterschiedlicher Länder sind. Die Liste der Unterschiede ist endlos. Weniger endlos ist die Liste der Übereinstimmungen der Länder, die Wege der Befreiung suchen nach Jahrhunderten der Unterdrückung und der Selbstverleugnung. Es sind unterschiedliche Erfahrungen dreier Länder, die entschieden haben, sich nicht länger im Spiegel zu bespucken, aufzuhören, das eigene Bild zu hassen, aufzuhören, sich mit den Augen derer zu betrachten, die sie verachten.

Welche Rolle spielt Brasilien in diesem Zusammenhang?

Eine sehr wichtige, aber das Problem besteht in der Versuchung eines abscheulichen Wortes: der Führung. Ich will nicht, dass irgend jemand mein Führer ist. Ich möchte weder befehlen noch Befehle erhalten. Ich wurde nicht geboren, um zu gehorchen. Ich wurde geboren, um meine Gewissensfreiheit auszuüben. Ich kann die Vorstellung nicht akzeptieren, dass es unter Menschen und unter Ländern Führer und Geführte gibt. Man muss in Richtung einer wahrhaft freien Gesellschaft gehen.

Warum gibt es kaum Beziehungen zwischen Lateinamerika und Afrika?

Das ist ein Skandal und Folge des Bildungssystems und der Medien. In der Mehrzahl der Länder Lateinamerikas gibt es einen enormen afrikanischen Einfluss: in der Küche, im Sport, in der Sprache, in der Kunst. Und trotzdem wissen wir nichts über Afrika. Aus Rassismus. Daher schien mir die Wahl Obamas ein Grund zum Feiern zu sein, auch wenn mich das, was er dann tat, nicht sonderlich überzeugt.

Interview: Ana Delicado, Quelle: Adital, deutsche Bearbeitung: Bernd Stößel

Eduardo Galeano, uruguayischer Journalist und Schriftsteller. Foto: De Marchi Moyano/Flickr

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