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Peru |

Der Faktor Angst und die Wahlen

“Es schien, als freuten sie sich darüber, in Panik zu sein”, wundert sich ein brasilianischer Soziologe, der nach dem Erdbeben von 2007 versucht hatte, seine Nachbarn in Lima zu beruhigen. Peruaner befürchten immer das Schlimmste und die Parteien nutzen das für ihren Wahlkampf. Ein Artikel von Wilfredo Ardito Vega.

Das schönste an den virtuellen Spaziergängen auf den Internetseiten von Lima „La Única“ und „Lima Antigua“ ist, dass wir als Teilnehmer alle gemeinsam mit unserem kollektiven Wissensschatz die Geschichte der Stadt rekonstruieren.

Im ersten Rundgang mit Lima Antigua erfahren wir beispielsweise, dass es für den Verfall des historischen Zentrums ein Schlüsseldatum gibt: den 5. Februar 1975. Damals gab es gewaltsame Plünderungen während eines Polizeistreiks. Tausende Büroangestellte und Mitarbeiter saßen stundenlang in der Falle, inmitten von Bränden und Krawallen.

Das Trauma des 5. Februar

Es schien, als habe sich an diesem 5. Februar die fürchterliche Prophezeiung erfüllt. “Sie” hatten die Stadt zerstört. “Sie”, die “Cholos”, wie die Indigenen in den Städten herablassend genannt werden, „die Massen von Indios“, die „in Lima eingefallen sind", die "Gehässigen", die nur nach Lima gekommen waren, um es zu zerstören. Aus Angst vor ihnen wurden neue Wohngebiete geschaffen, „um mit der Familie in Frieden leben können“. Aus Angst vor einem weiteren 5. Februar verließen die großen Firmen das Stadtzentrum von Lima und begaben sich in Viertel, die mehr Sicherheit versprachen, weit weg von „ihnen“.

Es kam nie zu einem weiteren 5. Februar, doch Jahre später belebte der Terrorismus die Ängste vieler Einwohner von Perus Hauptstadt gegenüber ihren armen und andinen Mitmenschen aufs Neue. Und ob dieser Angst zuckten sie nur mit den Schultern angesichts der Verbrechen, die Militärs von Ayacucho (in den Anden) bis Barrios Altos (nahe Lima) begingen. Einige wiederholen noch heute den Satz: “Bis zu dieser Explosion auf der Tarata-Straße in Lima hatten wir überhaupt keine Ahnung von dem, was da vor sich ging". In Wahrheit hatten sie einfach solche Angst, dass sie jedes Verbrechen rechtfertigten, wenn es ihnen nur selbst etwas Sicherheit versprach.

„Man weiß ja nie“

In diesem Klima der Angst gegenüber “anderen” Peruanern gibt es Rassismus, Klassismus... und vielleicht ein unbewusstes Schuldgefühl, möglicherweise mit dem eigenen Egoismus und der eigenen Arroganz den Hass der Mitmenschen provoziert zu haben.

Die Angst vor “ihnen” kann für das Zurückweisen eines politischen Gegners missbraucht werden: Im Jahr 2000 machten dies die Fujimori-Anhänger vor, indem sie Alejandro Toledo als einen Kommunisten und Gewalttäter darstellten. Eine Kassiererin des nicht mehr existierenden Bankunternehmens Wiese erklärte mir damals ganz verschreckt: “Dieser Mann” sei im Begriff alles zu ruinieren, “was wir bisher erreicht haben”. Jetzt ist es Toledo, der wie viele andere auch, darauf auf ist, dass die Leute Angst vor seinem Hauptgegner, vor Ollanta Humala haben.

In Wirklichkeit jedoch haben alle, die den Samen der Angst in Peru aussäen möchten, große Chancen auf Erfolg - unabhängig von Wahlkampfthemen und Politik. Manchmal scheint es, als sei die Veranlagung zu irrationalen Ängsten etwas, das zur nationalen Identität ebenso dazugehört wie die Fleischspieße mit namens “Antichuchos” oder die Schokolade “Sublime”. Vor wenigen Wochen schloss man angesichts der Tsunamiwarnung Theater und Kinos in Lima - als würde die Stadt sich nicht oberhalb einer Steilküste befinden. Es wurde sogar eine namhafte Universität um vier Uhr nachmittags evakuiert, denn man weiß ja nie... “Man muss alle Maßnahmen ergreifen”, erklärte mir eine verängstigte Frau.

Kollektive Ängste

In der Nacht des Erdbebens vom 15. August 2007 quälten sich Tausende Limeños, wie die Einwohner der Stadt genannt werden, völlig entmutigt zu ihren Häusern. Sie fürchteten, dass ihren Familienangehörigen das Schlimmste widerfahren sei. Ich erinnerte mich an weit schlimmere Erdbeben weshalb für mich klar war, dass niemandem in Lima etwas passiert sein könnte. Doch es war völlig unmöglich die Leute zu beruhigen.

“Es schien, als freuten sie sich darüber, in Panik zu sein”, sagte ein brasilianischer Soziologe zu mir, der versucht hatte, seine Nachbarn im Viertel Pueblo Libre zu beruhigen.

Ich bedaure besonders die kollektiven Ängste, die auf dem Misstrauen gegenüber anderen Peruanern beruhen. Denn ich gehöre zu jenen, die durch Lima gehen und davon überzeugt sind, dass es völlig unwahrscheinlich ist, dass ich überfallen oder angegriffen werde. Befreit von diesen weit verbreiteten Ängsten, fühle ich mich blendend: Ich kann um Mitternacht auf die Plaza Francia gehen um dort zu fotografieren oder die Straße mit der Gewissheit überqueren, dass mich niemand umbringen will.

“Du beruhigst mich” sagte mir eine Cousine, die in den USA lebt, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass sie ihre Armbanduhr nicht abnehmen müsse, so wie es ihre Freundinnen geraten hatten. Ich erinnere mich, dass ein Freund wie angewurzelt stehenblieb, als ein zuvorkommender Autofahrer anhielt, um uns über die Straße zu lassen. „Hab keine Angst“ Der Fahrer wird dich nicht umbringen!", erklärte ich ihm. Mein Freund rannte über die Straße und fürchtete wahrhaft um sein Leben - der Fahrer hätte ja ein Verrückter oder ein Sadist sein können.

Das Schlimmste annehmen

Ich weiß nicht, wozu es gut sein soll, das Schlimmste von anderen anzunehmen... aber viele nehmen auf diese Art und Weise auch die Wahlprognosen auf. Sie sind besessen davon, dass das Allerschlimmste geschehen wird, dass "sie" für die Inkarnation des Bösen - für den Kandidaten Humala - stimmen werden. Und wenn dieser dann an die Macht kommt, wird er Schaden anrichten, denn... oder weil “sie” eben so sind, die “Cholos”, die Gehässigen. Ich könnte ihnen sagen, dass Humala, selbst wenn er denn ein gehässiger Chavist wäre, keine Mehrheit im Parlament haben wird. Aber es ist schwierig Menschen zu beruhigen, die sich wünschen, Angst zu haben.

Und während sich Panik verbreitet und einige davon sprechen, das Land zu verlassen, glaube ich weiterhin an meine Mitmenschen, so wie jedes Mal, wenn ich die Straße überquere oder mich auf den Weg zu einem Spaziergang mache.

Autor: Wilfredo Ardito Vega in Adital, deutsche Bearbeitung Bettina Hoyer

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