Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.
Mexiko |

"Bleibt schön liegen"

Draußen pfeifen die Kugeln, drinnen beruhigt Kindergärtnerin Martha Rivera ihre Schützlinge mit einem Kinderlied über Regentropfen, die sich in Zucker und Schokolade verwandeln. „So, jetzt legt ihr euch alle auf den Rücken, und wir machen den Mund auf, damit wir die Schokotropfen auffangen“, hört man die Erzieherin auf dem kleinen Film sagen, den eine Kollegin per Handy drehte und ins Internet stellte.

„Hier passiert gar nichts, bleibt nur schön liegen und singt laut“, hört man die beruhigende Stimme der Lehrerin, während die Filmaufnahmen Einschusslöcher an der Decke zeigen. Die Schießerei draußen endete mit fünf Toten, die Kinder kamen mit dem Schrecken davon, und die Erzieherin aus der nordmexikanischen Stadt Monterrey wurde auf einen Schlag berühmt. Doch nicht für alle Kinder, die zwischen die Fronten des Drogenkriegs geraten, gibt es ein Happy End.

In fünf Jahren 1000 Kinder getötet

Alan Alexis Martinez kam gerade vom Supermarkt mit seiner Mutter und dem Opa. Der Vierjährige saß im Omnibus am Fenster und hielt seine neue DVD von „Shrek“ in den Händen, als die Schießerei losging. Eine Kugel durchbohrte seinen Körper, eine halbe Stunde brauchte die Familie, bis sie jemand fand, der das schwerverletzte Kind ins Krankenhaus von Torreon im Norden Mexikos brachte. Da war es schon zu spät. Tausend der 35.000 Toten des seit fünf Jahren andauernden Drogenkriegs sind Kinder, hat die UN-Menschenrechtskommission festgestellt. 3.600 Minderjährige sitzen nach Angaben der Staatsanwaltschaft wegen Vergehen im Sold der Drogenkartelle in Strafanstalten, rund 30.000 arbeiten laut der Kinderschutzorganisation Redim als Kuriere, Schmieresteher, Drogenpflücker oder Killer für die Mafia. Einige davon aus freien Stücken, andere wurden zwangsrekrutiert.

Viele Waisenkinder traumatisiert

Noch viel höher schätzen Menschenrechtsorganisationen inzwischen die Zahl der Kriegswaisen, auf 40.000. Alleine in Ciudad Juárez, der mörderischsten Stadt der Welt, sind es geschätzte 10.000. Sie alle haben Schlimmes erlebt. So wie Josua und sein Bruder Sammy. “Wir waren mit Papa im Auto unterwegs. Da kamen plötzlich ein paar Leute von hinten mit einem Pick-up und zwangen ihn zum Anhalten. Er sagte uns, wir sollen still sein und stieg aus. Die Männer diskutierten mit ihm und nahmen ihn mit. Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Erst viel später kam Mama und holte uns ab. Sie weinte und sagte, dass Papa nicht wiederkommen würde. Wir sind weggezogen von zuhause. Meine Mama hat Angst. Mein kleiner Bruder und ich weinen sehr viel, denn wir vermissen unseren Papa“, schrieb der Achtjährige seiner Lehrerin. Andere Kinder wurden direkte Augenzeugen des Mordes an ihren Eltern. So wie Francesco. „Jetzt will ich nur eines: groß werden und lernen, wie man schießt, dann bringe ich den Mörder meines Vaters um und die Polizisten, die nichts getan haben, um ihn zu schützen“, vertraute er seinem Lehrer an.

Alleingelassen mit der Tragödie

„Viele dieser Kinder stammen ohnehin aus schwierigen Familienverhältnissen. Und nun werden sie völlig alleingelassen mit ihrer Tragödie, mit ihrem Schmerz und ihren Rachegefühlen. So wächst im Stillen die nächste Generation von Killern heran“, sagt Myrna Pastrana, Anthropologin aus Ciudad Juárez, die Lehrer fortbildet und auf die Idee kam, die Kinder ihre Erlebnisse aufschreiben zu lassen. Sie ist eine der wenigen, die die Folgen des Drogenkriegs auf die Kinder untersucht. 60 Prozent der Armen in Mexiko sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. „Vielen von ihnen fehlt eine Perspektive im Leben“, so Pastrana. Diese ersetzen sie dann durch Gewalt. Einige der Jugendlichen, die Pastrana für ihre Studie befragte, gaben als Berufswunsch „Killer“ an. „Die haben Geld, ein tolles Auto, immer neue Klamotten und werden von allen geachtet“, gab der Zehnjährige an.

Makabres Kopfrechnen

Für Aufsehen sorgte kürzlich „El Ponchis“, ein 14-Jähriger, der im Auftrag eines Drogenkartells zusammen mit anderen Jugendlichen folterte und mordete und Videos davon ins Internet stellte. Jetzt sitzt er in einer Jugendstrafanstalt, lernt lesen und schreiben. Als ihn sein Lehrer am ersten Tag frage, was vier plus sechs sei, starrte er nur hilflos in die Luft. Bis ihm ein Kumpan zur Hilfe kam. „Also, stell dir vor, dort liegen vier Köpfe und da sechs, wie viele sind das zusammen?“ „Ach so, zehn“, antwortete Ponchis erleichtert. Er wurde mehr oder weniger auf der Straße groß, sein Vater ist unbekannt, seine Mutter lebt mit einem neuen Lebensgefährten in den USA und wird dort als Drogendealerin geführt. Ponchis wuchs bei der 71-jährigen Oma in Mexiko auf. Nach der ersten Klasse ging er von der Schule, weil er gemobbt wurde. Von den umgerechnet 600 Euro Monatslohn für seine Morde kaufte er sich Sportklamotten und Handies.

Soziale Missstände statt Bildung, Prävention und Kultur

Wissenschaftler machen Missbrauch und Vernachlässigung dafür verantwortlich, dass Jugendliche zum Killer werden. „Der Mangel an Zuwendung verändert die Gehirnstruktur, insbesondere die Fähigkeit zu Empathie und die Kontrolle von Impulsen und Gefühlen“, so der Kinderpsychologie Israel Castillo. Wenn dann noch das entsprechend brutale Ambiente da ist, und Drogendealer verlockende Angebote machen, ist der Schritt in die Kriminalität schnell getan.

„Es ist wie eine große Türe, und auf der anderen Seite frohlockt der Drogenboss mit Geld und Macht“, sagte der ehemalige Bürgermeister der kolumbianischen Stadt Medellin, Sergio Fajardo. „Und wenn die Jugendlichen einmal den Schritt gemacht haben, ist es sehr schwierig, sie wieder zurückzuholen“, fügt er hinzu. Deshalb hat er in Medellin auf Bildung, Prävention und Kultur gesetzt. Die Mordrate, vorher eine der höchsten der Welt, sank zwischen 2004 und 2007 spektakulär.

Abwesender Staat

In Mexiko sieht das Panorama düsterer aus. Der Staat ist fast überall abwesend. 2009 erstellte die Nicht-Regierungs-Organisatioen Incide Social eine Diagnose über die Zustände in Ciudad Juárez. „Das wirtschaftliche Umfeld ist einer harmonischen, gesunden Entwicklung der Menschen abträglich. Die langen Arbeitstage und die Schichtarbeit in den Sweatshops haben dazu geführt, dass die Kinder viele Stunden am Tag alleine sind. Weder gibt es in den Arbeiter-Schlafstädten der Vororte für sie genügend Betreuungseinrichtungen, noch ausreichend öffentliche Transportmittel dorthin“, heißt es. Statt Schulen und Krankenhäuser blühen der Alkoholausschank, der Verkauf von Raubkopien oder gestohlenen Autoteilen. Zwischen zwölf und 13 Jahre alt sind die Jugendlichen, wenn sie von der Mafia rekrutiert werden, hat der Menschenrechtsbeauftragte, Gustavo de la Rosa Hickerson, herausgefunden.

Zuwenig psychologische Betreuung

Manche sind noch jünger. Kürzlich wurde ein Grundschüler beim Drogendealen erwischt. Jetzt hat die Regierung die Kontrollen in den Schulen verstärkt, im vom Drogenkrieg besonders betroffenen Norden des Landes werden regelmäßig Schulranzen nach Drogen und Waffen durchwühlt und Anti-Drogen-Tests durchgeführt. Präventivmaßnahmen oder psychologische Betreuung gibt es dagegen viel zu wenig. „Die Behörden sind auf so etwas nicht vorbereitet“, so der Redim-Direktor Juan Martin Perez.

Straffreiheit

Die Straffreiheit, mit der die Mörder rechnen können, trägt ebenfalls nicht zu einem gesunden, demokratischen Miteinander bei. Der Staat scheint sich damit abgefunden zu haben. Als voriges Jahr in einem Problemviertel von Ciudad Juárez 16 Jugendliche von einem Killerkommando erschossen wurden, sprach Präsident Felipe Calderón von einer „Abrechnung unter kriminellen Jugendbanden“. Später musste er kleinlaut zurückrudern: die meisten der Getöteten waren Musterschüler, bei dem Massaker handelte es sich offenbar um eine tragische Verwechslung.

„Diese Stigmatisierung war das Schlimmste“, sagt Blanca Estela Camargo, die ihren ältesten Sohn dabei verlor. Der Fauxpas des Präsidenten sorgte immerhin dafür, dass die Opfer des Massakers psychologische Betreuung erhielten, Entschädigungszahlungen, eine Sportanlage in ihrem Viertel und Stipendien für die Überlebenden und Geschwister. Und dass hektisch nach Schuldigen gesucht wurde. Einer davon ist Israel Azarte, 24 Jahre alt, Straßenhändler, arm. Er sei an dem betroffenen Tag mit seinen Schwiegereltern unterwegs gewesen, sagt seine Mutter, die ihn regelmäßig im Gefängnis besucht. Beweise gegen ihn konnte die Staatsanwaltschaft bisher nicht vorlegen, nur ein offenbar unter Folter erzwungenes Geständnis; Menschenrechtsorganisationen halten Azarte für einen Sündenbock. Jung und dann vielleicht auch noch arm zu sein, ist ein Fluch in Zeiten des Drogenkriegs. „Jeder Jugendliche ist ein potenzielles Gewaltopfer“, sagt Hickerson.

Sandra Weiss, Puebla

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