Bild im Breitwandformat
Der Roman „35 Tote“ von Sergio Álvarez blickt auf die vergangenen fünf Jahrzehnte Kolumbiens zurück. Erzählt werden die Geschichten über Wahlbetrug, Liebe, Drogenschmuggel und Verrat von niemandem und allen.
„Das Leben in Kolumbien pflegt einem keine größeren Ruhepausen und erst recht keine Zeit zum Nachdenken zu gönnen.“ Diesen Satz spricht ein namenlos bleibender Mann, dessen Lebensweg wahrlich von vielen Enttäuschungen, Richtungsänderungen und Neuanfängen geprägt ist.
Der Mann ist die wichtigste Erzählstimme des vielschichtigen Romans „35 Tote“ (im Original „35 muertos“), in dem die kolumbianische Zeitgeschichte der vergangenen vier bis fünf Jahrzehnte auf spannende und atemberaubende Weise ausgebreitet wird. Verfasst wurde das Buch von dem in Bogotá geborenen, inzwischen jedoch in Barcelona lebenden Schriftsteller Sergio Álvarez.
Es geht buchstäblich um alles
Tatsächlich geschieht derart viel im Leben des Namenlosen, dass man ihm den eingangs zitierten Satz ohne weiteres abnimmt: Gewalt, Alkoholmissbrauch, Ehebruch, Korruption, Wahlbetrug, Machismo, Ausbeutung von Bodenschätzen, Liebe, Naturkatastrophen, Guerillakrieg, Verrat, Drogenschmuggel, Mord. Sein Vater wird zu Beginn des Handlungsreigens bei einem Polizeieinsatz erschossen. Seine Mutter stirbt bei der Niederkunft. Der alkoholkranke Onkel beteiligt sich an der Vernichtung von Stimmzetteln bei der Präsidentschaftswahl, weil er sich im Gegenzug ein lukratives Geschäft mit einem hochrangigen Politiker verspricht.
Eines Tages jedoch treibt seine Leiche den Fluss hinab. Mit einer Tante zieht der Junge nach Bogotá in ein kommunistisches Wohnprojekt. Er steht Schmiere, wenn die Genossen politische Aktionen durchführen, beobachtet die Eifersüchteleien innerhalb der Gruppe und schließlich deren Selbstzerfleischung. Er erlebt die rechtsgerichtete staatliche Repression gegen Oppositionelle, taucht auf dem Universitätscampus unter, landet später bei einer Straßengang und beteiligt sich an Raub und Erpressung. Er sieht Freunde und Widersacher kommen und gehen. Viele gehen nicht freiwillig, sondern erleiden einen gewaltsamen Tod. „Wenn so viele Menschen verschwinden, füllt sich das Leben mit Löchern,“ heißt es im Roman.
Ein großer Chor von Erzählstimmen
Die Hauptfigur von „35 Tote“ ist nicht die einzige, die ihre Zweifel, Ängste und Hoffnungen äußert. Der Roman ist ein faszinierender Chor, bestehend aus über einem Dutzend Erzählstimmen. Ein und dieselben Ereignisse werden aus verschiedenen Perspektiven geschildert oder kommentiert. Mehr noch: Eine Entwicklung wird aus der Sicht einer bestimmten Figur erzählt, worauf eine andere Figur den Faden aufnimmt und die Geschichte seitwärts weiterspinnt. So entsteht eine äußerst opulente Erzählung – quasi ein Kolumbien-Bild im Breitwandformat. Die Erzählstimmen stellen sich dabei nicht ausdrücklich vor, sondern ziehen die Leser sofort in die – oftmals harten, teilweise schockierenden – Geschehnisse hinein, aus deren Kontext man jeweils schließen muss, wer gerade das Wort führt.
Von einer Abhängigkeit in die nächste
Der Romanheld reißt sich keineswegs um die kriminellen Aufträge, die er ausführen soll, er buhlt nicht um Aufnahme in dubiose Gruppen und sucht nicht immer die Loyalität zu Einzelpersonen, deren schlechte Ziele von Anfang an erkennbar sind. Meistens wird er überredet, von Sachzwängen getrieben, von Dritten ausgenutzt oder er beugt sich einer Notlage. So gerät er stets in neue, mitunter noch schlimmere Abhängigkeiten. Und er lernt: Selbst wenn es ihm in einem Lebensabschnitt gut geht, wenn ein für unüberwindbar gehaltenes Problem aus dem Weg geräumt ist, wenn er eine Glückssträhne hat, so ist dieser Zustand nur vorübergehend: „Ich tat das, was jeder Kolumbianer tut, wenn das Leben ihn auf einmal gut behandelt: Ich ließ mich vom Glück mitreißen, ohne darauf zu achten, ob vielleicht etwas faul war.“
Autor: Thomas Völkner
Sergio Álvarez: 35 Tote, Übersetzung: Marianne Gareis, Berlin: Suhrkamp 2011, 546 Seiten, EUR 14,95, ISBN 978-3-518-46250-8.