Blickpunkt-Lateinamerika 2/2020

kommt sie jeden Tag damit um fünf Uhr morgens in den Sender. Vorher verabschiedet sich die 33-Jährige von ihrer kranken Mutter, die sie pflegt. „Ich lege je- den Tag in Gottes Hand, eine andere Absicherung habe ich nicht.“ Sobald Lesly durch die Glastür bei Radio Progreso getreten ist, schreibt sie ihrer Mutter eine Nachricht. „Die größte Herausforderung bei meiner Arbeit ist, zu überleben“, sagt sie. Seit 2009 wurden laut „Reporter ohne Grenzen“ mehr als 30 Journalisten in Honduras getötet. Fast alle dieser Taten blieben und bleiben straflos, die Auf- klärungsrate liegt bei acht Prozent. 2019 wurden 237 Warnungen zu Angriffen auf die Pressefreiheit von der Nationalen Autonomen Universität Honduras regis- triert, in acht Fällen endete es tödlich für die Journa- listen. Die Ermordung der international bekannten Menschenrechts- und Umweltaktivistin Berta Cáceres imMärz 2016 brachte die Gewalt gegen Menschen- rechtsverteidiger und Journalisten in Honduras kurz- zeitig ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Bis heu- te kommt der Staat seiner Verpflichtung nicht nach, Gewalt gegen Journalisten zu verhindern. Schlimmer noch, oftmals geht sie sogar von ihm selbst aus. 20 Mitarbeiter von Radio Progreso und der Stiftung ERIC wurden vom Interamerikanischen Menschenrechts- system unter Schutz gestellt, da sie in den vergangen zehn Jahren Morddrohungen erhielten. Das Interamerikanische Menschenrechtssystem be- steht aus der Interamerikanischen Menschenrechts- kommission in Washington und dem Interamerikani- schen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica und unterstützt Lateinamerikaner, deren Rechte vom Staat verletzt werden. „Es ist gut, dass wir auf dem Papier diesen Schutz erhalten, dass es gesehen wird. Aber im Alltag bringt mir das gar nichts. Ich und auch meine Freunde und Verwandte werden weiterhin bedroht und verfolgt“, sagt Leticia Castellanos. Seit 17 Jahren arbeitet die Journalistin bei Radio Progreso. Seit 2017 moderiert sie die Morning Show hinter einer schusssicheren Scheibe. Damals war auf die Moderatoren geschossen worden. „Bis heute stehen regelmäßig vermummte Gestalten mit Waffen vor dem Gebäude, an manchen Tagen auch das Militär“, erzählt Leticia Castellanos. Sie zielen auf den Sender, halten Autos an, verfolgen Mitarbeiter. Seit Jahren verlässt Leticia abends nicht mehr das Haus, tagsüber geht sie nie allein. Doch das ist nicht so einfach. Freunde und Kollegen wollen sie nicht mehr zur Arbeit mitnehmen, nachdem sie wegen ihr bedroht und verfolgt wurden. Leticia hat einen jugendlichen Sohn, ihre Eltern bekommen regelmäßig Drohanrufe. „Meinungsfreiheit in einem Land auszuüben, das wie eine Diktatur regiert wird, ist eine tägliche Aufgabe und Herausforderung“, erklärt Padre Melo. Immer wieder betont er, dass Politik und Wirtschaft in Honduras eng verstrickt seien mit der Drogen- kriminalität. Seit dem letzten Staatsstreich vor zehn Unten: Letty Castellanos im Studio von Radio Progreso. Y 9

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