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Rio de Janeiro: Die Macht der Milizen

Glücksspiel, Politik und Karneval: Damian Platt beschreibt in „Nothing for accident“ wie Rio de Janeiro zu einer von Gewalt gezeichneten Stadt wurde – und welche Rolle Jair Bolsonaro dabei spielt

In den Favelas von Rio de Janeiro erpressen Milizen Schutzgeld oder Handeln mit Drogen.  Foto: Adveniat/ Martin Steffen

Sollten Sie nach Rio de Janeiro fahren, merken Sie sich einen Satz: „Perdeu, playboy!“ – „Du hast verloren, Playboy!“ Das sollen rich kids aus den bürgerlichen Vierteln von der Copacabana bis Ipanema, aber auch Touristen zu hören bekommen, wenn sie am Strand ausgeraubt werden. Mir ist das so zwar nie passiert, doch Straßenkriminalität und Gewalt kann in der Metropole am Zuckerhut kaum einer entgehen, der sich länger dort aufhält. 

Damian Platt erging es nicht anders. 15 Jahre hat der Brite in Rio gelebt, wo er für verschiedene soziale und Menschenrechts-Projekte tätig war, in Favelas wie der Maré ein- und ausgegangen ist und als Komparse die monatelangen Proben einer Sambaschule für den großen Auftritt beim Karneval mitgemacht hat. Zum Ende seines Aufenthalts kommt es zu zwei schrecklichen Verbrechen in seinem Umfeld: Ein Opfer ist Gabriel, der Sohn der Hausangestellten seiner WG. Der hatte als Taxifahrer eines Nachts „Stahl-Leo“ als Fahrgast, ein bekanntes Mitglied einer Drogengang, die im Streit lag mit paramilitärischen „milícias“. Leo wurde im Taxi erschossen aufgefunden, Gabriel ist seither verschwunden – nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Am 14. März 2018 wurde schließlich die mit Platt befreundete Stadtabgeordnete Marielle Franco in ihrem Auto mit mehreren Schüssen kaltblütig hingerichtet. Die 38-jährige bisexuelle Afrobrasilianerin aus der Favela Maré war eine Ikone der Linken; nach ihrem Tod kam es vielerorts in Brasilien und im Ausland zu Protesten. Wer hinter dem Mord steht, ist weiter ungeklärt, doch Indizien legen nahe, dass Franco den Geschäften von Milizen in der Westzone der Stadt in die Quere gekommen war.

Woher kommt die Gewalt in Rio? 

Die große Frage, die Damian Platt in seinem Buch „Nothing for accident“ umtreibt, lautet: Woher kommt diese Gewalt in Rio de Janeiro, einer Stadt, die sich schon wegen ihrer atemberaubenden Lage und schwindelerregenden Topografie das Attribut „wunderbar“ verdient hat, wo Ärmere oft an den schönsten Orten wohnen, oben auf den grünen Hügeln der Favelas? Wie wurde Rio zu einem Ort, wo das Leben eines Teils ihrer Bewohner kaum etwas wert ist und martialisch auftretende Sondereinheiten der Militärpolizei Jagd auf arme, dunkelhäutige Jugendliche machen? Es geht dabei um Strukturen, mit denen Brasiliens rechtsradikaler Präsident Jair Bolsonaro eng verwoben ist. Wer Brasiliens gesellschaftliche Verhältnisse verstehen will, findet in Rio de Janeiro Antworten. Es ist das Heimatrevier Bolsonaros und seiner Familie.

Platt widerspricht der gängigen Erklärung, Kern des Problems seien die Drogenbanden in den von Gewalt regierten Favelas, die mit Gras und Koks große Gewinne einfahren und sich mit der Polizei Gefechte liefern. Gibt es nicht vielmehr Hintermänner mit Geld und Einfluss, die die wirklichen Nutznießer sind? Um diese Frage zu klären, führt uns Platt ein in die Geschichte der Stadt seit Beginn des 20. Jahrhunderts (als sie bereits verrufen war). Wie Misha Glenny in „Der König der Favelas“, einem Porträt des Drogenbosses Nem, entwirft Platt ein Beziehungsgeflecht von Akteuren, um dem organisierten Verbrechen in Rio auf die Spur zu kommen. Doch Platt hat anders als der Journalist Glenny mehr selber von dem erlebt, was er beschreibt. Mäandernd und ohne jede Großspurigkeit nährt sich Platt dem Thema, mal persönlicher, mal analytischer und macht Zusammenhänge deutlich.

Die Glücksspiel-Mafia

Etwa wie das „Comando Vermelho“ entstanden ist. Das „Rote Kommando“ (CV) war jahrzehntelang die größte Drogenbande Rios – und ihre Keimzelle die Ilha Grande, die in den 1970er Jahren noch eine Häftlingsinsel war. Dort trafen Kriminelle auf von den Militärs inhaftierte politische Gefangene und wehrten sich gemeinsam gegen die schlechten Haftbedingungen. Dafür lehrten die „Politischen“ den Gangstern vom Zuckerhut die Bedeutung von Zusammenhalt und strategische Planung – nur dass diese das dann nicht für soziale Anliegen einsetzten, sondern für ihre gewinnbringenden Geschäfte.

Auf der Suche nach Strippenziehern im Hintergrund stößt Platt auf die Glücksspiel-Mafia, die in Rio vom „jogo de bicho“ geprägt ist. Diese Lotterie mit Tierbildern war 1892 vom Unternehmer Baron Drummond erfunden worden, um Geld für einen Zoo zu sammeln, entwickelt sich aber seit den 1950er Jahren zu einer weitgefächerten lukrativen „illegalen Underground-Ökonomie“, so Platt. Im Laufe der Zeit wächst die Macht der Glücksspiel-Bosse, die „öffentliche Arbeiten finanzieren und die Taschen von Politikern füllen“.   

Das „jogo de bicho“ spielt nicht nur in der Politik Rio de Janeiros eine entscheidende Rolle, sondern auch beim berühmten Karneval der Stadt. Die „bicheiros“ erkannten schnell das Potential der „idiosynkratischen“ Sambaschulen. Als Mäzene der Schulen konnten sie „die Popularität des Karnevals zur Tarnung ihrer Interessen nutzen“, schreibt Platt. Ein illustres Beispiel ist der Sessim David-Clan, der seit 40 Jahren die Politik von Rios Vorort Nilópolis bestimmt. Anísio David ist nicht nur einer der Köpfe der Glücksspiel-Mafia sondern zugleich auch Patron der ortsansässigen Sambaschule Beija-Flor. Während der Militärdiktatur (1964–1985) zollte die renommierte Schule den Machthabern beim Karneval gleich mehrfach Tribut und Anísio sorgte dafür, dass die Junta-Partei Arena in Nilópolis stets die Wahlen gewann. In den 1980ern gründeten die „Jogo de bicho“-Bosse um Anísio nach Streit mit dem progressiven Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro Leonel Brizola mit der LIESA eine unabhängige Liga der Sambaschulen. Bis heute richtet sie die jährliche Parade des weltbekannten Karnevals aus.  

Milzen sollen mehr als die Hälfte der Stadt kontrollieren 

Wichtige Weichenstellungen bei der Formierung des organisierten Verbrechens fanden laut Platt nicht zufällig in den Jahren der Militärdiktatur statt: Viele aus dem Glücksspiel-Milieu wurden für die Militärs tätig, um gemeinsam die Repression gegen Oppositionelle zu forcieren; später wechselten Sicherheitskräfte aus dem militärischen Apparat zur „jogo de bicho“-Mafia – oft als Geldeintreiber, manchmal als Auftragskiller. So bildeten sich bis heute existierende Netzwerke. Jair Bolsonaros ältester Sohn Flávio trat etwa 2018 in Nilópolis bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Anísios Bruder Farid auf, dem Bürgermeister von Nilópolis. 

Heute gibt es noch eine weitere mächtige Gruppierung, die ihrerseits mit der Spielmafia und den öffentlichen Sicherheitsorganen verbunden ist: die von korrupten Polizisten und aus dem Dienst ausgeschiedenen Kollegen gebildeten Milizen. Sie machen in den Favelas Geld mit Schutzgelderpressung, dem Handel von Gas und Wasser und dadurch, dass sie die Hand auf den Transport mit Kleinbussen haben. Mancherorts verkaufen sie auch Drogen – obwohl sie unter dem Vorwand angetreten waren, mit deren Handel aufzuräumen. Inzwischen sollen die mehr als die Hälfte des Stadtgebiets kontrollieren. Wobei die „milícias“ im Ruf stehen, Gewalt in den Favelas mehr als die herkömmlichen Drogenhändler gezielt zur Aufrechterhaltung territorialer Kontrolle einzusetzen. Man kann es darum als provokant ansehen, als im Jahr 2008 ein damals noch eher unbekannter Politiker in einem BBC-Interview die Milizen verteidigte: Jair Bolsonaro behauptete, sie würden für Sicherheit, Ordnung und Disziplin in den Armenvierteln sorgen.

Bolsonaro und die Milizen

Zehn Jahre später wird Marielle Franco ermordet. In ihrem Fall führen Spuren, die Platt detailliert beschreibt, sowohl zu Milizen als auch zum Ex-Offizier Bolsonaro und seiner Familie. Verdächtigt die tödlichen Schüsse auf Franco abgegeben zu haben, ist der mittlerweile verhaftete frühere Polizist Ronnie Lessa, der sich in seinem langen kriminellen Leben auch schon als Auftragskiller für die Spielmafia verdingt haben soll. Und wo lebte Lessa vor seiner Haft? In Barra Villas, derselben gated community, in der auch Jair Bolsonaro wohnt. Die Ermittlungsbehörden vermuten sogar, dass es dort in der Nacht des Mordes zu einem Treffen von Bolsonaro, Lessa und seinen Komplizen kam.

Zu letzteren soll Adriano de Nóbrega gehört haben. Und dieser Milizen-Gangster steht wiederum in enger Verbindung zu Bolsonaros Sohn Flávio, der heute Senator ist. Weitere Details dieser Beziehung wie auch zu Nóbregas möglicher Beteiligung am Franco-Mord sind schwer zu klären, weil der flüchtige Nóbrega im Februar 2020 in Bahia von Polizisten erschossen wurde.

Es ist nicht erwiesen, dass der Bolsonaro-Clan unmittelbar etwas mit der Ermordung Marielle Francos zu tun hat – doch außer Frage steht auch, dass er engen Kontakt mit im konkreten Fall Verdächtigen hat und eine menschenverachtende, scheinheilige Law-and-Order-Politik betreibt, die willentlich den Tod tausender Menschen in Kauf nimmt. Platt zitiert Fernando de Barros e Silva, den früheren Chefredakteur des Politmagazins „Piauí“, für den unzweifelhaft ist, was der „Bolsonarismus“ repräsentiert: „den Sieg des Milizen-Modells im Umgang mit der Gewalt in Brasilien“.

Autor: Ole Schulz 

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