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Mexiko: Wo Jugend zur Wegwerfware wird

Jugendliche Auftragsmörder gehören zum Geschäftsmodell des organisierten Verbrechens in Mexiko. Ein neues Buch erzählt nun von den Schicksalen, die sich dahinter verbergen. Laut Schätzungen arbeiten rund 60.000 Minderjährige für Mexikos Kartelle.

Mexiko, Drogen, Kindheit

Foto einer verlorenen Kindheit in einer Wellblechhütte entlang der Bahngleise in Mexiko-Stadt: Guadalupes drogenabhängige Eltern starben früh, ihre Großeltern schickten sie zum Kaugummi-Verkaufen statt in die Schule. Foto: Adveniat/Jürgen Escher

Er war 14, schwer bewaffnet, Analphabet und hatte bei seiner Festnahme bereits vier Menschenleben auf dem Gewissen. Edgar Jímenez alias „El Ponchis“ war vor zehn Jahren der erste Kinderkiller, dessen Fall in Mexiko Schlagzeilen machte. Inzwischen sind jugendliche Auftragsmörder Teil des Geschäftsmodells der Mafia. Rund 60.000 Minderjährige, so eine Schätzung der Organisation „Reinserta“, haben die Kartelle mittlerweile in ihren Reihen. Eine Gruppe Aktivistinnen, die mit der Rehabilitation straffälliger Jugendlicher befasst sind, haben nun ein Buch darüber verfasst. Die Fälle, die sie darin schildern, lassen einem die Haare zu Berge stehen – ebenso wie die Tatenlosigkeit von Behörden, Sicherheitskräften und Nachbarn. „Jeder Sohn des Vaterlandes ein Killer“, heißt das Buch provokativ unter Anspielung auf eine Strophe der Nationalhymne.

Vom Dealer zum Mörder

Da ist zum Beispiel Damián. Mit sechs Jahren verkaufte oder verschenkte ihn seine Mutter – genau zu rekonstruieren war das nicht, weil sie ohnehin 16 Kinder von verschiedenen Männern hatte. Bei der neuen Familie wurde er geschlagen und musste betteln, statt in die Schule zu gehen. Eines Tages floh er und fand Anschluss bei einer Jugendgang auf der städtischen Müllkippe. Im Alter von acht Jahren nahm er Drogen und wurde von einer Bande rekrutiert, die Kinder für den Organhandel entführt. Damián musste die in Frage kommenden Kinder anlocken oder ihre Eltern ablenken, damit die Entführer zuschlagen konnten. Ein Jahr später dealte er mit Drogen. Als das Zeta-Kartell seinen besten Freund umbrachte, musst er seinen ersten Mord begehen, um selbst am Leben zu bleiben. Töten, um nicht getötet zu werden.

Jugendliche Auftragskiller überleben drei Jahre

„Die Waffe gab ihm Status, das Kartell Geld, ein Dach überm Kopf, Essen und vor allem Anerkennung und Zugehörigkeitsgefühl“, sagte im Interview mit dieser Zeitung Saskia Niño de Rivera, eine der Autorinnen und Vorsitzende von „Reinserta“. Später wurde Damián beauftragt, die Leichen der Opfer des Kartells in Säure aufzulösen. „Die Chemikalien machen diejenigen verrückt, die das tun. Und wenn sie dem Kartell nicht mehr nützlich sind, werden sie umgebracht“, schildert Rivera. Drei Jahre überlebt im Schnitt ein Kinderkiller, hat das Nationale Statistikinstitut Inegi festgestellt. Damián hatte Glück, bei einer Razzia wurde er festgenommen und landete als 14jähriger in der Erziehungsanstalt, wo er Rivera traf. „Ich war wütend, entsetzt und weinte, als er mir seine Geschichte erzählte“, schildert die 33jährige. „Sein Fall ist ein klares Beispiel für das Versagen von Staat und Gesellschaft.“

Traumatisiert und entmenschlicht

Das Phänomen hat in den vergangenen fünf Jahren zugenommen. Inzwischen gibt es ganz gezielte Anwerbeaktionen . „Uns sind Fälle bekannt, wo Kartelle Jugendliche auf der Straße oder der Müllkippe ansprechen und manchmal bis zu 60 von ihnen einsammeln und in die Berge bringen“, so Rivera. Dort lernen sie unter Anleitung erwachsener Ausbilder den Umgang mit Waffen und werden gezielt traumatisiert und entmenschlicht. „Am Anfang bekommen sie eine Hundewelpe geschenkt, die sie nach 30 Tagen eigenhändig umbringen müssen“, erzählt Rivera. „Das zerstört ihre Persönlichkeitsstruktur. Sie sind später kaum in der Lage, Ereignisse chronologisch zu ordnen oder Empathie zu empfinden“, schildert die Psychologin.

Kinderrechtsexperte: "Nach toten Jugendlichen kräht kein Hahn"

Das Panorama für Mexikos Drogenkriegs-Generation ist rabenschwarz: Der Großteil der Gefängnisinsassen ist unter 27 Jahre alt. Die Zahl der jugendlichen Straftäter ist innerhalb von fünf Jahren um zehn Prozent gestiegen. 70 Prozent der Verurteilten hat bei der Straftat eine Waffe benutzt. Mafiaboss zu sein ist für 26 Prozent der Jugendlichen in den besonders gewalttätigen Regionen inzwischen erstrebenswert, so ein Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission und des Zentrums für Sozialanthropologische Studien (CIESAS). „Wir opfern gerade eine ganze Generation“, sagt Juan Martin Pérez vom Netzwerk für Kinderrechte (Redim). „Die Jugendlichen behandeln wir nicht wie unsere Zukunft, sondern wie Wegwerfware. Nach toten Jugendlichen kräht kein Hahn. Sie sind noch nicht strafmündig und leicht zu manipulieren, deshalb sind sie für die Kartelle so bequem.“

Polizei von Kartellen korrumpiert

Seit Jahren liegen die Menschenrechtskommission, die UNO, Redim und andere dem Staat in den Ohren, damit er endlich dem Organisierten Verbrechen den Nachwuchs abspenstig macht. „Aber nichts passiert“, klagt Xochitl Meseguer von der auf Bildungsfragen spezialisierten Organisation Odisea. Politik reagiere nur statt präventiv zu handeln. Bürgermeister glauben, mit einem Fußballplatz oder einem Stipendium sei es getan. Die Lehrer an den staatlichen Schulen, in deren Einzugsbereich sich normalerweise die besonders gefährdeten Jugendlichen befinden, sind unterbezahlt und schlecht ausgebildet. Oftmals werden verhaltensauffällige Kinder nicht unterstützt, sondern aus der Schule geworfen, was ihren Niedergang noch beschleunigt. Die Polizei, die die Bevölkerung schützen sollte, ist oft von den Kartellen kooptiert und wirbt die Jugendlichen an. Kinder für Straftaten einzuspannen ist zwar strafbar. Dafür sei aber noch nie jemand verurteilt worden, sagt Rivera.

Nährboden: Familiäre Armut und Drogen

Hinzu kommt Mexikos ungerechte Wirtschaftsstruktur. 53 Prozent aller Kinder wachsen in Armut auf - das „Resultat einer Wirtschaftspolitik, die seit Jahrzehnten die Gehälter so niedrig hält, dass die meisten Familien davon kein würdevolles Leben führen können“, so CIESAS. In so einem prekären Umfeld ist es schwer, auf dem rechten Weg zu bleiben. 69 Prozent der straffälligen Jugendlichen haben vor Beginn ihrer kriminellen Karriere Drogen konsumiert, 62 Prozent stammen aus zerrütteten Familien, 80 Prozent sind Schulabbrecher. „Sie fallen einfach aus dem System, und niemand fragt nach ihnen oder versucht sie wieder einzugliedern“, erzählt Meseguer. In dieser Grauzone werden Opfer zu Tätern und wieder zu Opfern. Damián wurde vor einem Jahr ermordet. Die Spur von „El Ponchis“ verlor sich nach seiner dreijährigen Zwangsinternierung.

Autorin: Sandra Weiss

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