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Meinung: Venezuela - eine unverstandene Krise

Die Vereidigung des neuen regierungstreuen Parlaments in Venezuela ist ein weiterer Tiefpunkt in einer politischen Dauerkrise, deren Ende nicht absehbar ist, meint Johan Ramírez.

Venezuela, Protest

Angestellte eines staatlichen Krankenhauses in Venezuela demonstrieren gegen die prekäre Situation. "Meine einzige Waffe ist meine Stimme" steht auf dem Plakat. Foto: Adveniat/Florian Kopp

Je mehr ich über die venezolanische Krise nachdenke, desto deutlicher muss ich erkennen, dass wir nichts begriffen haben. Die Vereidigung der regierungstreuen Nationalversammlung am 5. Januar wirft Fragen auf. Wie soll man ein Land verstehen, dass zwei Präsidenten hat (den gewählten Nicolás Maduro und den selbsternannten Juan Guaidó), zwei Justizsysteme, zwei Parlamente und eine Verfassunggebende Versammlung, die seit drei Jahren vorgibt eine neue Verfassung zu schreiben, die es aber bis zum heutigen Tag nicht geschafft hat, auch nur einen einzigen Artikel zu Papier zu bringen.

Mit der Einsetzung des linientreuen Parlaments hat der venezolanische Staat aufgehört zu existieren. Denn der Staat, das sind die Institutionen, die ihn tragen und ihm einen rechtlichen Rahmen verleihen. All das gibt es seit Dienstag nicht mehr. Der Chavismus hat sein Werk vollendet. 20 Jahre hat es gedauert, bis alle Strukturen beseitigt waren, die den Fortbestand des (hoffentlich!) letzten totalitären Regimes in Lateinamerika hätten verhindern können. Dass es überhaupt zu diesem unheilvollen Szenario kommen konnte, daran sind nicht nur Regierung und Opposition in Venezuela Schuld. Daran tragen wir alle eine Mitschuld, denn niemand von uns hat diese Krise begriffen.

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit

Die Welt hat tatenlos zugeschaut, wie Hugo Chávez seine Vormachtstellung seit 1999 ausbaute, nachdem er zum ersten Mal die Präsidentschaft übernommen hatte. Sein systematischer Machtmissbrauch wurde gerne als karibische Exzentrizität toleriert; die Tiraden gegen seine Feinde als südländisches Temperament gefeiert. Die ersten Fälle politischer Verfolgung und die Einschränkung der Grundrechte, alles wurde entschuldigt mit dem Hinweis darauf, es handele sich um ein gesellschaftliches Experiment: der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Die Linke hat den Chavismus aus Prinzip verteidigt und sah sich nicht im Stande, die Schließung des ältesten Fernsehsenders des Landes 2007 zu verurteilen.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 2021 und der Nationalen Journalisten-Vereinigung zufolge sind 165 Medien in Venezuela verboten worden: Fernseh- und Radiosender ebenso wie Zeitungen. Ganz zu schweigen von den unzähligen Angriffen auf die Medien, den Drohungen gegen Reporter und der Verhaftung von Journalisten. Am Anfang stand die Diffamierung des politischen Gegners, heute gibt es in Venezuela 350 politische Gefangene (teilweise waren es bis zu tausend). Die Vorwürfe über grausame Folter machen selbst die Vereinten Nationen sprachlos.

Die Welt hat sich amüsiert, als Chávez US-Präsident Bush in der Generalversammlung der UNO 2006 offen herausgefordert hat. Wenn der Chavismus aus diesen Episoden eines gelernt hat, dann dass er die internationale Staatengemeinschaft in allen Instanzen und auf allen Bühnen verspotten kann. Die Vereidigung des regierungstreuen Parlaments gibt der Regierung von Maduro Recht. Die Sanktionen aus Washington und die windelweichen Erklärungen aus Brüssel sind ohne Bedeutung. Maduro verhöhnt die Welt weiterhin.

Fehleinschätzung mit fatalen Folgen

Die Opposition hat, selbstverständlich, auch nichts begriffen. Sie dachte, durch ein Boykott der Wahlen könnte sie die Legitimität der Regierung infrage stellen. Dabei hat sie jedoch übersehen, dass sie der Regierung damit den Weg geebnet hat, die Demokratie zu missbrauchen und alle von der Verfassung vorgesehenen Mechanismen zu nutzen, um sämtliche Institutionen zu unterwandern und alle Räume der Bürgerbeteiligung für sich zu vereinnahmen.

Auch die Bürger haben nichts begriffen. Sie hielten eine Militär-Invasion für die endgültige Lösung. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, hat Recht: Diktaturen zerfallen von innen. Alles andere ist Interventionismus. Wir befinden uns aber nicht mehr in den sechziger, siebziger oder achtziger Jahren, als man Marines entsandte, um Präsidenten ein- oder abzusetzen.

Die internationale Staatengemeinschaft hat ebenso wenig begriffen. Seit zwei Jahren glaubt sie nur allzu bereitwillig an das Allheilmittel des politischen Wandels und setzte auf den Einfluss des Weißen Hauses, um Maduro zu stürzen. Daher hat man nicht weiter auf den Druck der Straße in Venezuela gesetzt. Die Wichtigtuerei von Donald Trump schien ausreichend zu sein.

An der Auflösung des venezolanischen Staates sind folglich alle mitschuldig. Im Grunde haben wir alle gedacht, eine Diktatur des 21. Jahrhunderts könne mit den politischen Mitteln des 20. Jahrhunderts gestürzt werden. Wir haben uns getäuscht. Dass der Chavismus ohne Chávez heute gefestigt, hegemonisch und totalitär seine Macht behauptet, ist der zwingende Beweis, dass wir nichts begriffen haben.

Quelle: Deutsche Welle, Autor: Johan Ramírez

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