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Kuba: Coleros - die "Schlangensteher" von Havanna

Lange Warteschlangen sind auf Kuba zum Sinnbild für die Wirtschaftskrise geworden. Für alles muss angestanden werden, oft stundenlang. Die Not hat eine Beschäftigung aufblühen lassen: professionelles Schlange stehen.

Straßenszene in Kubas Hauptstadt Havanna. Foto (Archivbild 2012): Adveniat/Martin Steffen.

Straßenszene in Kubas Hauptstadt Havanna. Foto (Archivbild 2012): Adveniat/Martin Steffen.

Einkaufen macht derzeit keinen Spaß auf Kuba. "Alles ist schwierig. Um ein Päckchen Hühnerfleisch zu kaufen, steht man zum Teil sieben, acht Stunden lang an", sagt Ricardo Barragán. Zwar habe sich die Situation zuletzt etwas gebessert, aber es könne durchaus passieren, dass 200, 300 Leute vor einem Laden anstünden, so der 59-jährige Familienvater.

Wie alle in diesem Text bat er darum, seinen Namen zu ändern. Vor Beginn der Pandemie verdiente er sein Geld als Kunsthandwerker; seitdem hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Oft aber ist er den ganzen Tag unterwegs, um etwas Reis oder Fleisch aufzutreiben.

Devisenläden und Nicht-Devisenläden

Die Corona-Pandemie hat die zuvor bereits akute Wirtschafts- und Zahlungskrise auf der Insel weiter verschärft. Die Einnahmen aus dem Tourismus brachen fast vollständig weg; immer schärfere US-Sanktionen erschweren Geldüberweisungen von Auslandskubanern. Die Regierung in Havanna reagierte darauf zu Jahresbeginn mit einer Währungsreform, begleitet von einer Preis- und Lohnreform. Nach 25 Jahren wurde der Konvertible Peso (CUC) abgeschafft und der Kubanische Peso (CUP) als einzige Währung im Umlauf belassen.

Anstelle des CUC ist aber längst eine andere starke Währung getreten: der US-Dollar. Um dringend benötigte Devisen einzunehmen, eröffnete die Regierung im Oktober 2019 staatliche Devisenläden, in denen Haushaltsgeräte und Autoteile und seit Juni auch Lebensmittel und Hygieneartikel per Kartenzahlung in ausländischen Währungen gekauft werden können.

Das Angebot in den Nicht-Devisenläden dagegen ist ausgedünnt. Und dort, wo es noch etwas zu kaufen gibt, bilden sich lange Schlangen. Die sind zum sichtbaren Ausdruck der prekären Versorgungslage geworden. Praktisch für jede Art von Produkt wird angestanden. "Einen Tag Hähnchen hier, morgen Speiseöl dort. Die Schlangen hören dadurch nie auf", klagt Barragán.

Schlange stehen für andere

Viele, gerade ältere Leute können oder wollen aber nicht Schlange stehen. Hinzu kommt die Sorge vor der Ansteckungsgefahr in den Menschenansammlungen. Dies hat einen Geschäftszweig aufblühen lassen: professionelle Schlangensteher, sogenannte coleros, die ihren Platz in der Warteschlange gegen eine kleine Summe abtreten bzw. die Waren auf dem Schwarzmarkt weiterverkaufen.

Einer der so in der Pandemie ein Auskommen gefunden hat, ist Marco Jiménez. Der Anfang Vierzigjährige ist in einem staatlichen Optiklabor angestellt. Vor der Währungsumstellung verdiente er 280 CUP im Monat, knapp 12 US-Dollar. Nebenbei verkaufte er unter der Hand Brillengläser und besserte so sein Einkommen auf. "Ab Ende 2019 aber gab es keine Materialien mehr, kein Glas, und wir wurden nach Hause geschickt. Zwei Monate bekamen wir noch Gehalt, dann nichts mehr", sagt er. Ein Freund brachte ihn auf die Idee, mit Schlange stehen Geld zu verdienen.

Manche Schlangen wachsen nach vorne

Seit Beginn der Corona-Pandemie werden aus Hygienegründen in die meisten Geschäfte nur noch zwei bis vier Kunden gleichzeitig hereingelassen. Das hat die schon immer existierenden Warteschlangen potenziert. Die Reduzierung der Öffnungszeiten und die in Havanna geltende nächtliche Ausgangssperre verschärfen das Problem noch. "Ab fünf Uhr morgens darf man raus. Die Leute markieren ab dann ihren Platz in der Schlange", erzählt Jiménez. Markieren funktioniert, indem man in der Schlange nach dem letzten "el último" fragt. "Statt nach hinten, wachsen in Kuba die Schlangen nach vorn. Denn mit Ladenöffnung um Neun tauchen diejenigen auf, die vorher markiert haben. Es kann also passieren, dass dann nicht mehr zehn, sondern plötzlich siebzig Leute vor einem stehen."

Einige markieren und verkaufen ihren Platz in der Schlange, in der Regel für 50 CUP. Zeitaufwendiger, aber auch lukrativer ist es, selbst einzukaufen und dann weiterzuverkaufen. "Hühnchen, Hackfleisch, Mayonnaise, Spaghetti, was auch immer es gibt", sagt Jiménez. Beim Weiterverkauf verlangt er in der Regel das Doppelte. Er schätzt, dass 80 Prozent der Leute in den Schlangen Weiterverkäufer sind.

Die Regierung hat zahlreiche Produkte normiert. So gibt es beispielsweise für pro Person nur ein Päckchen Hühnerfleisch. Jiménez nimmt daher in der Regel zwei, drei Leute mit, um größere Mengen einkaufen zu können. "Ansonsten lohnt es sich nicht", sagt er. Manchmal spricht er auch vor dem Laden Wildfremde an und bietet ihnen etwas Geld, 75 CUP, damit sie ihn begleiten und er mehr kaufen kann.

Die Nase voll

Von allen, die einen Laden betreten, wird zudem der Ausweis gescannt. Damit soll verhindert werden, dass die Leute sich mehrmals anstellen. Die Geldbußen sind hoch. Jiménez geht "maximal" zwei-, dreimal die Woche "um nicht aufzufallen", wie er sagt. Mittlerweile hat er feste Abnehmer, das reduziert das Risiko.

Zwischen 750 und 1000 CUP - umgerechnet etwas mehr als 40 Dollar - verdient er pro Woche, sagt er. Damit komme er gut über die Runden. Zumal er seit zwei Monaten vom Staat für pesquisas eingesetzt wird, also von Haustür zu Haustür geht, um Coronainfizierte aufzuspüren. Dafür erhält er derzeit wieder sein staatliches Gehalt.

Er hofft, bald in seinen alten Job zurückkehren zu können. "Schlange stehen hat geholfen, um zu überleben", aber vom stundenlangen Anstehen, um etwas Geld zu verdienen, hat er langsam die Nase voll. Vermissen wird er die Schlangen nicht, sagt er.

Quelle: Deutsche Welle, Autor: Andreas Knobloch (Havanna)

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