Kritik an Verhaftung oppositioneller Politiker in Bolivien
In Bolivien sind am Samstag die frühere Interimspräsidentin Jeanine Áñez sowie weitere ehemalige Kabinettsmitglieder und Oppositionelle verhaftet worden. Die Kirche kritisiert das Vorgehen ungewöhnlich scharf.

Boliviens Ex-Präsidentin Jeanine Áñez muss für vier Monate in Untersuchungshaft bleiben. Foto: Agencia Boliviana de Información, Ricardo Carvallo Terán
In Bolivien ist die frühere Übergangspräsidentin Jeanine Áñez am Samstag festgenommen worden. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder sowie Oppositionelle wurden bereits am Freitag inhaftiert.
Bischöfe: Unabhängigkeit der Justiz respektieren
Der Hauptgeschäftsführer des deutschen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat Pater Michael Heinz sprach sich für einen Dialog aus: "Alle Seiten müssen dringend verbal abrüsten. Gespräche der politischen Akteure in gegenseitigem Respekt sind das Gebot der Stunde. Dabei ist klar: Die Gewaltenteilung muss unbedingt respektiert werden.“ Ähnlich hat die bolivianische Bischofskonferenz erklärt: Es könne nur Demokratie geben, wenn eine unabhängige Justiz respektiert und nicht politischen Interessen einer im Amt befindlichen Regierung unterworfen werde. Die Demokratie sei der Respekt vor der Wahrheit. Die Bischöfe fordern Präsident Luis Arce auf, der Versuchung "einer totalen Kontrolle der Macht, der Rache und der politischen Verfolgung" zu widerstehen. Die Demokratie fordere den Respekt vor den Menschenrechten, heißt es in dem von Erzbischof Ricardo Centellas aus Sucre am Samstag (Ortszeit) verlesenen Appell.
Neben der ehemaligen Interimspräsidentin Áñez, die das Land von November 2019 bis November 2020 führte, waren auch die früheren Minister Rodrigo Guzmán und Álvaro Coimbra wegen des Vorwurfs des Terrorismus und des Aufruhrs festgenommen worden. Während Ex-Präsident Evo Morales erklärte, gegen die "Drahtzieher und Komplizen" des "Staatsstreichs" gegen ihn müsse "ermittelt" und sie müssten "bestraft" werden, schrieb Áñez: "Die politische Verfolgung hat begonnen." Die Regierung werfe ihr vor, "an einem Staatsstreich teilgenommen zu haben, den es nie gegeben hat".
Europäische Union reagiert besorgt
Angehörige von regierungsnahen Todesopfern, die bei Ausschreitungen während der Unruhen infolge der umstrittenen Wahlentscheidung 2019 ums Leben kamen, begrüßten dagegen die Verhaftung von Áñez und machten sie für die Gewalt verantwortlich. Andere Angehörige von Gewaltopfern, die der Morales-Regierung kritisch gegenüberstanden, werfen der Regierungspartei MAS dagegen vor, die eigenen Gewalttaten vertuschen und die Wahrheit verdrehen zu wollen.
Áñez' Tochter Carolina Ribera erklärte, der amtierende sozialistische Präsident Luis Arce habe die Verhaftung seiner Vorgängerin in Auftrag gegeben. Die Europäische Union forderte Bolivien in einer ersten Reaktion auf, die Gewaltenteilung zu respektieren. Die EU werde die Geschehnisse in Bolivien aufmerksam verfolgen.
Bolivien wurde nach der Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 von heftigen Unruhen erschüttert. Schon die erneute Kandidatur des damaligen Präsidenten Evo Morales war nach einem verloren gegangenen Referendum über eine dazu notwendige Verfassungsänderung hoch umstritten. Morales brach sein Wort und setzte seine Kandidatur gegen das Wählervotum auf juristischem Wege durch.
Nach den Präsidentschaftswahlen warf die Opposition dem seit 2006 regierenden sozialistischen Präsidenten Wahlbetrug vor, Hunderttausende gingen auf die Straße. Morales bestand zunächst auf einem Sieg im ersten Durchgang.
Wahlmanipulation oder Putsch?
Eine Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sprach in einem Abschlussbericht von schwerwiegenden Manipulationsversuchen und empfahl Neuwahlen. Morales trat daraufhin zurück, ging zunächst nach Mexiko und später nach Argentinien ins Exil. Unter Berufung auf spätere Studien aus den USA wies Morales die Manipulations-Vorwürfe zurück und spricht seitdem von einem Putschversuch gegen ihn. Die OAS blieb hingegen bei ihrer Darstellung.
Morales' Parteifreund Luis Arce gewann die von Áñez organisierten Neuwahlen deutlich und ist inzwischen im Amt. Morales selbst kehrte nach Bolivien zurück und ist in führender Funktion innerhalb der Regierungspartei tätig.
Pressemitteilung des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat "Zwischen Regierung und Opposition in Bolivien vermitteln", 15. März 2021