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Kolumbien: Warum demonstrieren Tausende seit Wochen?

Armut, Hunger und Verzweiflung: Seit Wochen herrschen in Kolumbien Massenproteste. Es geht um steigende Lebensmittelpreise, aber auch um Polizeigewalt. Doch die Lage im Land ist schon lange angespannt.

Trommler beim Straßenprotest in Cali, Kolumbien. Foto: Adveniat/Antonia Schaefer

Trommler beim Straßenprotest in Cali, Kolumbien. Foto: Adveniat/Antonia Schaefer

Seit mehr als zwei Wochen demonstrieren Kolumbianer gegen ihre Regierung. Auch wenn diese nun eine weitere personelle Konsequenz gezogen hat, kommt das Land nicht zur Ruhe. Nach dem Rücktritt des Finanzministers Alberto Carrasquilla, verlässt nun auch die Außenministerin Claudia Blum die Regierung. Das Büro der Politikerin gab die Entscheidung am Donnerstag, 13. Mai 2021 (Ortszeit) bekannt. Zwar nannte Blum in ihrem Rücktrittsschreiben keine Gründe, aber angesichts zahlreicher Menschenrechtsverletzungen steht die Regierung unter großem internationalem Druck.

Bei den Protesten sind bisher bereits mindestens 42 Menschen ums Leben gekommen und bis zu 15.000 verletzt worden. Auslöser der Massenproteste war eine Steuerreform, die Präsident Ivan Duque Ende April vorlegte, mittlerweile aber wieder zurückgezogen hat. Auch einige Wirtschaftswissenschaftler des Landes hielten Reformen für nötig.

Im Mittelpunkt der Kritik stand eine geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer. Damit wollte die Regierung nach eigenen Angaben Haushaltslöcher stopfen, Investitionen weiterhin ermöglichen und und ärmere Familien unterstützen. Die Corona-Krise hat das Land viel Geld gekostet. Doch die Pläne lösten Empörung aus - besonders die Mittelschicht des Landes wäre davon betroffen gewesen. Kolumbianer aus verschiedenen sozialen Schichten gingen auf die Straße, um ihren Unmut zu äußern.

Diese Unzufriedenheit ist nichts Neues in Kolumbien. Denn die Protestierenden haben viel mehr zu beklagen, als nur die Steuerreform. Bereits 2019 demonstrieren Tausende gegen die Regierung Duque. Es war die Corona-Pandemie, die zwar viele soziale Ungleichheiten verschärfte, gleichzeitig aber auch den Aufschrei dämpfte - bis jetzt. "Kolumbiens Armuts- und Hungerquoten im letzten Jahr sind besorgniserregend", sagte Alejandro Rodriguez Llach. Er ist Ökonom und arbeitet für den in Bogotá ansässigen Think Tank Dejusticia. Nach Angaben der Nationalen Verwaltungsabteilung für Statistik lebten 2020 42,5 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Weitere 30 Prozent sind wirtschaftlich akut bedroht. Dazu kommt, dass die Arbeitslosigkeit im vergangenen Jahr um fünf Prozentpunkte gestiegen ist - vor allem unter den Jüngeren.

Die Mittelschicht wird vergessen

In Kolumbien beträgt der Mindestlohn ungefähr 940,000 pesos (€210) pro Monat. Aber die, die in extremer Armut leben, verdienen oft nur 145,000 pesos (€33) pro Monat. Diese Menschen hätten von der Steuerreform zwar profitiert, da sie finanzielle Unterstützung bekommen sollten. Doch die Mehrwertsteuererhöhung hätte die Preise für Grundnahrungsmittel und andere wichtige Güter in die Höhe getrieben und dabei Kolumbianer belastet, die selbst zu kämpfen haben, auch wenn sie nicht unter der Armutsgrenze leben, meint Alejandro Rodriguez.

"Menschen, die wirtschaftlich gefährdet sind, wurden nicht berücksichtigt", erklärte er. "Das ist eine sehr heterogene Gruppe, die keine Staatshilfe bekommt und keine Möglichkeit hat, die Schäden der Pandemie selber aufzufangen." Diese Menschen hätten nur ihr Einkommen - und das sei aufgrund der Pandemie geschrumpft. Der Vorschlag habe auch "für Entrüstung gesorgt, weil er sich - trotz fortschrittlicher Bestandteile - darauf konzentriert hat, von der Mittelschicht statt den Spitzenverdienern Geld zu kassieren", so der Experte.

"Eine extrem explosive Mischung"

"Viele Menschen in Kolumbien haben nichts mehr zu verlieren außer ihr Leben", sagt Monika Lauer Perez, Leiterin des Referats Kolumbien beim Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Die Steuerreform sei nur "der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Absolute Verzweiflung, Zorn und Empörung bringen die Menschen dazu, zu protestieren, um zu sehen, ob sie etwas ändern können", erklärt sie. Das sei eine extrem explosive Mischung.

Neben den klaffenden Ungleichheiten sieht Alejandro Rodriguez noch weitere anhaltende Probleme: die Chancenlosigkeit, den strukturellen Rassismus und die militärischen Maßnahmen des Staates. Eigentlich sollte 2016 der Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla den bewaffneten Konflikt zur Ruhe bringen. Aber viele Kolumbianer zeigen sich enttäuscht davon, in welch langsamen Tempo der Staat das Abkommen umsetzt. Viereinhalb Jahre nachdem der Deal unterzeichnet wurde, brodelt es in ehemaligen FARC-Gebieten weiterhin. Viele dieser ländlichen, kriegszerrissenen Regionen wurden vom Staat vergessen - ideal für kriminelle Gruppen, die mit Drogen handeln oder illegal Bodenschätze abbauen.

"Seitdem [die FARC] demobilisiert und das Abkommen unterzeichnet wurde, ist der Erzfeind, die FARC, nicht mehr so präsent", meint Alejandro Rodriguez. Für die Gesellschaft stünden die strukturellen Ursachen des Konflikts im Mittelpunkt. "Das sind alles soziale und wirtschaftliche Aspekte, die früher im Schatten standen und jetzt spürbar sind."

Der politische Kampf soll an den Wahlurnen stattfinden

Für Duques Regierung wird es schwer werden, das Vertrauen der Demonstranten zu gewinnen, sagt Monika Lauer Perez vom Adveniat. Deswegen haben die Vereinten Nationen und die kolumbianische Bischofskonferenz bereits angeboten zu vermitteln. Bei Verhandlungen müsse dem Staat vor allem eines klar sein: Kolumbianer hätten das Recht zu protestieren, sagte Alejandro Rodriguez. Je härter die Polizei durchgreife und je mehr Menschen sterben würden, desto empörter werden die Demonstranten über das Schweigen der Regierung. "Man hat staatliche Gewalt und alarmierende Todeszahlen gesehen", sagt er. "Und die Regierung hat trotzdem zur exzessiven Gewalt ihrer Sicherheitskräfte geschwiegen."

Der Wirtschaftswissenschaftler geht nicht davon aus, dass bei Vermittlungen tiefgreifende Vereinbarungen getroffen werden. "Sie sollten wenigstens das Chaos eindämmen", sagte er. So könne wenigstens der politische Kampf über die Zukunft des Landes während der Wahlen 2022 weitergeführt werden.

Quelle: Deutsche Welle, Autorin: Cristina Papaleo

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