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Kolumbien: Wahrheitskommission legt Bericht vor

Erst gestand die Farc-Guerilla ihre Gräueltaten gegenüber der Sonderjustiz, dann stellte eine Wahrheitskommission dem Staat und der Armee ein vernichtendes Zeugnis aus: Eine Woche, die Kolumbien für immer verändern wird.

Fotos erinnern an Jimenas Zeit als Farc-Kämpferin. Heute wird die junge Frau von einer Sozialpsychologin der Versöhnungskommission der kolumbianischen Bischofskonferenz bei ihrem Neustart in ein Leben in Frieden begleitet. Foto: Adveniat/Florian Kopp

Fotos erinnern an Jimenas Zeit als Farc-Kämpferin. Heute wird die junge Frau von einer Sozialpsychologin der Versöhnungskommission der kolumbianischen Bischofskonferenz bei ihrem Neustart in ein Leben in Frieden begleitet. Foto: Adveniat/Florian Kopp

Am Ende eines emotionalen Tages suchte Francisco de Roux (78) den Vergleich mit der deutschen Geschichte. Die Deutschen, sagte der Jesuitenpater und Vorsitzende der Wahrheitskommission, hätten eine Generation gebraucht, um sich dem zu stellen, was sie während des Krieges getan hätten. Aber als sich die Deutschen als Gesellschaft ihrer Verantwortung gegenüber den sechs Millionen ermordeten Juden gestellt hätten, da habe sich Deutschland gewandelt und seine Würde und seinen Stolz zurückerlangt, sagte de Roux in der Hauptnachrichtensendung des kolumbianischen Senders „Caracol“.

Schwerwiegende Verbrechen dokumentiert

Der Vergleich mit Nazi-Deutschland offenbart, für wie schwerwiegend de Roux die Verbrechen des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien hält, die die Wahrheitskommission auf insgesamt mehreren hundert Seiten zusammengefasst in Bogotá der Öffentlichkeit präsentierte. „Wir bitten darum, die Wahrheiten der Tragödie zu akzeptieren“, sagte de Roux. Schon allein die nackten Zahlen sind entsetzlich: Über 450.000 Tote, über 100.000 bis heute Verschwundene, über acht Millionen Vertriebene, über 50.000 Geiselnahmen und fast 17.000 rekrutierte Kindersoldaten zwischen 1986 und 2016. Für den Bericht führte die Wahrheitskommission über vier Jahre lang mehr als 27.000 Interviews im ganzen Land. Rund 3.000 Helfer seien im Einsatz gewesen und hätten die so genannten "Treffen für die Wahrheit" moderiert, berichtet das Nachrichtenportal Deutsche Welle. Dabei seien in ganz Kolumbien Zeugen und Opfer zusammengekommen und hätten über Vertreibung, Folter, Mord und Entführungen berichtet.

Militär verantwortlich für systematische Hinrichtungen

Für den kolumbianischen Staat und seine Armee ist der Bericht ein Desaster: Laut Erkenntnissen der Kommission gehen 45 Prozent der Toten auf das Konto der rechtsextremen Paramilitärs, deren Taten oft von der regulären Armee (12 Prozent) gedeckt wurden. Besonders verheerend ist für das Militär der Passus über die außergerichtlichen Hinrichtungen, die aus einer „systematischen Praxis“ resultierten, um „den Gegner um jeden Preis zu eliminieren“, wie es im Bericht heißt. Die Armee ermordete dabei tausende unschuldige Zivilisten und gab sie anschließend fälschlicherweise als Guerilleros aus, um Prämien zu kassieren. Demgegenüber sind die linksgerichtete ehemalige Farc-Guerilla für 21 Prozent und die immer noch aktive marxistische ELN-Guerilla für 4 Prozent der Morde verantwortlich. 

Kommission empfiehlt Polizei- und Agrarreform

Als Ergebnis der Untersuchungen empfiehlt die Kommission dem künftigen linksgerichteten Präsidenten Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez eine Strukturreform der Sicherheitskräfte. Dazu zählt unter anderem, die Polizei aus dem Verteidigungsministerium herauszuziehen und dem Innenministerium zu unterstellen, um eine zivile Kontrolle zu gewährleisten. Zudem solle die Wehrpflicht schrittweise abgeschafft werden. Der Bericht schlägt zudem eine Agrarreform und die Gründung eines Ministeriums für Frieden und Versöhnung vor, das die Umsetzung des Friedensprozesses überwachen soll.

Politische Sprengkraft hat die Empfehlung der Kommission, Venezuela bei möglichen Friedensgesprächen mit der ELN-Guerilla um Hilfe zu bitten. Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro wird nach seinem umstrittenen Wahlsieg 2018 und wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen von zahlreichen Staaten, darunter die USA und die EU, nicht anerkannt.

Farc-Kommandanten gestehen Gräueltaten

Kolumbiens rechtsgerichteter Präsident Iván Duque blieb der Vorstellung anders als die ehemaligen Farc-Kommandanten demonstrativ fern. Er weilte stattdessen bei einem Termin in Portugal und will den Bericht offenbar nächste Woche von de Roux persönlich in Empfang nehmen. Die rechte Oppositionspolitikerin Maria Fernanda Cabal sprach von einer “Show der Kommission der Lügen”. In den sozialen Netzwerken kritisierten andere Stimmen die Diskreditierung einer Armee, die Kolumbien vor der Narcoguerilla beschützt habe. Ein Vertreter in der Kommission hatte zuvor aus Protest seinen Rücktritt erklärt, weil er die Opfer der Armee und der Polizei nicht genügend gewürdigt sah. 

Ein paar Tage zuvor hatten bereits die Geständnisse der Kommandanten der ehemaligen Farc-Guerilla die Öffentlichkeit erschüttert. Sie räumten die Verantwortung für 21.000 Entführungen ein und gaben öffentlich im Rahmen einer Anhörung der Sonderjustiz zu, ihre Geiseln teilweise sexuell missbraucht, gefoltert und hingerichtet zu haben. Die Farc schloss 2016 mit der Regierung des damaligen Präsidenten und späteren Friedensnobelpreisträgers Juan Manuel Santos einen Friedensvertrag. Ein Punkt des Vertrages: Die Gründung einer Wahrheitskommission zur Aufarbeitung des Konflikts.

Gustavo Petro: "Kreisläufe der Rache durchbrechen"

Der Bericht eben dieser Wahrheitskommission und die Geständnisse der Guerilla bringen den künftigen Präsidenten Gustavo Petro nun in eine historisch einzigartige Position. Der Linkspolitiker sendete wie bereits nach seinem Wahlsieg ein Signal der Versöhnung an das rechte Lager, das innerhalb einer Woche erst die Macht bei den Wahlen und dann auch noch ein gutes Stück Reputation verlor: „Wir müssen die Kreisläufe der Rache durchbrechen, die uns immer wieder zur Gewalt führen“, sagte Petro. 

Adveniat fordert Umsetzung des Friedensvertrags

Auch der Hauptgeschäftsführer des deutschen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, Pater Martin Maier SJ, forderte anlässlich der Präsidentschaftswahlen in Kolumbien, dass die politisch motivierte Gewalt aufhören müsse: „Die neue Regierung muss alle, die sich für Frieden, die Menschenrechte und die Umwelt einsetzen endlich wirksam schützen, die Morde der Vergangenheit aufklären und die Straflosigkeit beenden.“ Deutschland habe sich während der Friedensverhandlungen mit einem Sonderbeauftragten für den Friedensprozess in Kolumbien beim Auswärtigen Amt vorbildlich und auch erfolgreich engagiert. "Es war ein Fehler, dass dieses Engagement beendet wurde“, kritisierte Pater Maier. „Es genügt nicht, Frieden auf dem Papier zu schließen. Der Friedensvertrag hätte Punkt für Punkt umgesetzt werden und Deutschland, die EU und die internationale Gemeinschaft hätten diesen Prozess begleiten müssen. Beides ist nicht geschehen“, bedauerte Maier (--> Adveniat-Pressemitteilung, Mai 2022)

Gustavo Petro bietet sich nun die Möglichkeit, die im Friedensvertrag festgehaltenen Punkte doch noch umzusetzen, den Krieg mit der noch aktiven ELN-Guerilla zu beenden und die tief gespaltene Gesellschaft in einen Versöhnungsprozess zu führen. Ein Treffen mit dem ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, der als graue Eminenz es rechten Lagers gilt, ist anvisiert.

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Autor: Tobias Käufer, Kolumbien

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