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Kolumbien: Von ganz unten nach (fast) ganz oben

Die schwarze Aktivistin Francia Márquez mischt Kolumbiens Wahlkampf auf und könnte Vizepräsidentin werden. 

Die kolumbianische Politikerin und Umweltschützerin Francia Márquez zu Gast im europäischen Parlament. Foto: Francia Márquez, The Left, CC BY-SA 4.0

Die kolumbianische Politikerin und Umweltschützerin Francia Márquez zu Gast im europäischen Parlament. Foto: Francia Márquez, The Left, CC BY-SA 4.0

Ein Samstag Mitte Mai, die schwüle Mittagshitze liegt schwer über dem Marktplatz von Santander de Quilichao. In der Kleinstadt im Departement Cauca im Südwesten Kolumbiens warten 3.000 Menschen auf Francia Márquez. Es sind vor allem Afrokolumbianer, mehrheitlich Frauen. Die linke Kandidatin für das Vizepräsidentenamt ist für 13 Uhr angekündigt, lässt aber wie immer in diesem Wahlkampf auf sich warten. Márquez‘ Anhänger decken sich derweil mit Mützen und T-Shirts der Kandidatin ein. Musik spielt, die Menschen tanzen, machen Selfies und fordern in Sprechchören den Auftritt der Kandidatin: „Um Francia zu sehen und reden zu hören, lohnt sich jedes Warten. Sie wird das Land verändern“, sagt die 34-jährige Sozialarbeiterin Olga Lucía Agudelo. 

Umweltaktivistin und Kämpferin für Frauenrechte

Die Afrokolumbianerin Márquez, Umweltaktivistin und Vorkämpferin für Frauen- und Minderheitenrechte, ist in jeder Hinsicht Aufreger dieser ungewöhnlichen Präsidentenwahl am Sonntag. Sie tritt gemeinsam mit dem linken Dauerbrenner Gustavo Petro für das Bündnis „Pacto Histórico“ an. Aber während der 62-Jährige Petro ein Linker alter Schule ist, kommt Márquez als eine moderne Kandidatin daher, wie sie Kolumbien noch nie hatte. 
 
Die 40-Jährige rüttelt an den Grundfesten des Landes, an dessen Spitze sich seit über hundert Jahren Vertreter konservativer und liberaler Eliten abwechseln. Und nun mischt eine schwarze frühere Hausangestellte die Politik auf. Sie gibt den Millionen marginalisierten Kolumbianerinnen und Kolumbianern eine Stimme und ein Gesicht, die in Armut und Unsichtbarkeit leben, wie auch Márquez selbst den Großteil ihres Lebens. Márquez nennt sie „Nadies“, „Niemands“. „Francia steht wie kein anderer der Bewerber für den Wandel in Politik und gesellschaftlichen Themen, den die Menschen so dringend herbeisehnen“, sagt León Valencia, Direktor der „Stiftung für Frieden und Aussöhnung“ (Pares). 

Für einen Wandel in Politik und Gesellschaft

Als Márquez drei Stunden später in einem strahlend gelben Kleid endlich aus dem gepanzerten SUV steigt, schützen sie Polizisten mit schusssicheren Schilden. „Es lebe Francia Márquez“ ruft ihr das Publikum in Quilichao zu. 
 
Dann spricht die Frau von kleiner Statur, aber großer Präsenz eine halbe Stunde lang über die Themen, die ihr wichtig sind. Die Opfer der Gewalt, die Mütter, die von ihren Männern allein gelassen werden, den strukturellen Rassismus, wenn Schwarzen nichts zugetraut wird. Dabei will ihre weiche Stimme nicht so recht passen zu den harten Realitäten des Landes, die sie anprangert. Sie kritisiert die rechte Regierung, die den Friedensprozess mit der Linksguerilla Farc „in Stücke gerissenen“ habe, erwähnt die Armut. Márquez’ Sprache ist frei von Floskeln und voller Versprechen. „Wir werden die historische Ausgrenzung der schwarzen Minderheit und der Indigenen beenden“.

Eilten fürchten Nachteile für Wirtschaft

Die ungewöhnliche Kandidatin ist eine Herausforderung für die politische Klasse. „Ich habe nicht darum gebeten, in die Politik zu gehen. Aber die Politik hat sich mit mir angelegt, und jetzt legen wir uns mit ihr an“, sagt sie unter dem Jubel der Zuhörer und reckt wie so oft die linke Faust in die Höhe. 
 
Solche Sätze sind es, vor denen die Eliten im fernen Bogotá bisweilen zittern. Sie fürchten, dass Petro und sie die viertgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas auch ökonomisch auf links ziehen wollen. Das Duo, das in allen Umfragen komfortabel führt, wolle die Ölförderung stoppen, die Wirtschaft gängeln und Unternehmen enteignen, lautet der Vorwurf. Nichts davon ist richtig. Petro will lediglich Umweltschutz und Wirtschaftswachstum in Einklang bringen. 

Kindheit in der Konfliktregion Cauca

Márquez wuchs in Suárez auf, einem Dorf keine 50 Kilometer von Santander de Quilichao entfernt. Hier bündeln sich fast alle Probleme Kolumbiens: Kokaanbau, illegaler Bergbau, Landraub und Vertreibung. Zudem liegt Márquez‘ Heimat in einem umkämpften Schmuggelkorridor zur Pazifikküste.
 
Weil ihre Eltern den ganzen Tag arbeiteten, zogen die Großeltern sie groß. Als Kind suchte sie wie fast alle in Suárez nach Gold im Fluss, lernte spät Lesen und Schreiben. Mit 16 wurde Márquez schwanger, zog einen ersten und später einen zweiten Sohn allein groß, sie engagierte sich als Aktivistin in der Gemeinde, kämpfte gegen illegalen Bergbau, legte sich mit multinationalen Firmen und den bewaffneten Gruppen an, die um die wertvollen Ressourcen konkurrieren. Weggefährten in Suárez bezeichnen sie als „kämpferisch und unnachgiebig“. Márquez wurde bedroht, musste fliehen und konnte Jahre nicht zurück in ihr Dorf.

Aus dem Cauca, einem der drei ärmsten Departements Kolumbiens, ist Márquez dennoch ein Aufstieg gelungen, den ihr niemand zugetraut hat. Sie ist das Symbol für ein Land, das anders aussieht, anders spricht, eine andere Herkunft hat und dennoch an die Türen der Macht klopft. Aber die Elite will das nach wie vor nicht wahrhaben. Mal wird sie von Popsternchen als „King Kong“ beleidigt, von Senatoren als Sympathisantin der Linksguerilla ELN verunglimpft, oder ihr wird das Amt als Vizepräsidentin bei ihrer Herkunft nicht zugetraut. Fehltritte wie jüngst, als sie behauptete, Kolumbien importiere Eier aus Deutschland, sind ein gefundenes Fressen für die konservativen Medien. Und sie befeuern das Bild der Unerfahrenheit der Kandidatin. 

Soziale Ungleichheit als Wahlkampfthema

Kolumbien ist eine der stabilsten Volkswirtschaften Lateinamerikas. Das Wachstum betrug vergangenes Jahr mehr als zehn Prozent. Aber davon kommt zu wenig bei den Menschen an. Knapp 40 Prozent der 51 Millionen Kolumbianer leben in Armut. In Südamerika ist nur in Brasilien die Ungleichheit größer. In der Folge ist die soziale Unzufriedenheit enorm.
 
Genau auf diese Themen setzt daher das linke Bewerberduo in seinem Wahlkampf. „Mit Petro und Márquez kommt Kolumbien endlich in der Modernität an“, sagt die Analystin María Teresa Ronderos. In einem Land, in dem sich die Wahlkämpfe Jahrzehnte nur um Krieg und Frieden, um die Guerillas Farc und ELN, um Paramilitärs und Drogenhandel drehten, stehen Themen wie Umweltzerstörung, Klimawandel, Gendergerechtigkeit, soziale Ungleichheit plötzlich im Zentrum. „Es ist die erste Wahl mit völlig neuen Themen“, unterstreicht Ronderos. 
 
Möglich gemacht habe das der historische Friedensvertrag mit der Linksguerilla Farc Ende 2016. Der habe dem Land zwar keinen wirklichen Frieden gebracht, das Abkommen habe aber die Rhetorik und Dynamik in der politischen Diskussion verändert, ergänzt der Politologe Yann Basset von der Universität del Rosario in Bogotá. 

Kolumbien vor historischem Machtwechsel

Und gerade Márquez‘ Aufstieg ist untrennbar mit den sozialen Protesten verbunden, die Kolumbien vor genau einem Jahr erschütterten. Damals gingen Hunderttausende vor allem junge Menschen auf die Straßen und forderten ein gerechteres Land, mehr Möglichkeiten und bezahlbare Bildung. Und vor allem lehnten die Protestierer die politische Klasse ab. Márquez war damals die einzige Politikerin, mit denen die jungen Kolumbianerinnen und Kolumbianer redeten. Sie schaffte es im Wortsinn hinter die Barrikaden, die überall im Land errichtet wurden. 
 
Erstmals habe die Linke eine reale Chance an die Macht zu kommen, betont Basset. Der frühere Bürgermeister von Medellín, Federico Gutiérrez, hinter dem sich alle konservativen und ultrarechten Kräfte sammeln, liegt abgeschlagen auf dem zweiten Platz. „In gewisser Weise kehrt demokratische Normalität nur auch in Kolumbien ein“.
 
Wenn es für das Duo Petro/Márquez am Sonntag nicht für 50 Prozent und einen Triumph in erster Runde reicht, dann gewinnt das linke Gespann laut Umfragen aber die Stichwahl am 19. Juni. Dann wäre Francia Márquez, die sich ihr Jurastudium als Hausangestellte für weiße Familien verdiente, von ganz unten (fast) ganz oben angekommen und kein „Niemand“ mehr. Schon jetzt wird sie in der aktuellen „Forbes“-Liste der 50 „mächtigsten Frauen Kolumbiens“ auf Platz 18 geführt. Platz eins hat Marta Lucia Ramírez inne, die aktuelle Vizepräsidentin. 

Autor: Klaus Ehringfeld, Kolumbien

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