Kolumbien: „Die junge Generation will jetzt mitgestalten“
Ulrike Purrer arbeitet in der Jugend-Kultureinrichtung "Centro Afro" in der südkolumbianischen Stadt Tumaco, die besonders von Gewalt betroffen ist. Die Arbeit des Kulturzentrums wird vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt. Blickpunkt Lateinamerika sprach mit Ulrike Purrer während eines Deutschlandbesuchs über die Erwartungen der Menschen vor Ort vor den Wahlen in Kolumbien.
Blickpunkt Lateinamerika: Was genau leistet das Centro Afro?
Ulrike Purrer: Unser „Centro Afro” liegt in einer der konfliktreichsten Gegenden von Tumaco tief im Süden Kolumbiens, wo bis zum Friedensvertrag die Farc-Guerilla das Sagen hatte. Inzwischen sind andere bewaffnete Gruppen in die Stadt gekommen und viele Kinder und Jugendliche sind in Gefahr, von diesen Gruppen und dem Drogenhandel rekrutiert zu werden. In unserem Jugendzentrum gibt es Angebote für die Kinder und Jugendlichen, die sie dabei unterstützen sollen, Protagonisten ihres eigenen Weges und später vielleicht auch des Jugendzentrums und in der Region zu werden, wie unsere HipHop-Gruppe Afro Mitú. Mit ihren gesellschaftskritischen Botschaften fordern sie eine gesellschaftliche Transformation von der Regierung ein.
Warum gibt es fast sechs Jahre nach Unterzeichnung des Friedensvertrages immer noch keinen Frieden in Tumaco?
Die Farc hat in den letzten Jahren das Stadtgebiet kontrolliert. Es war abzusehen, dass, wenn die Farc wirklich die Waffen abgibt und die Stadt verlässt, ein Machtvakuum entstehen wird. Dieses Machtvakuum hätte der Staat aktiv ausfüllen müssen - mit nachhaltigen Projekten, gerade für die Jugend. Das ist nicht passiert. Inzwischen sind neue bewaffnete Gruppen in die Stadt und in das Umland gedrängt, die sich alle um den Drogenhandel drehen. Aus Mangel an Arbeitsplätzen gibt es oftmals für viele Familien nur den Drogenhandel als einzige Alternative. Und das ist mit Gewalt verbunden.
Welche Erwartungen verbinden die Menschen in Tumaco mit den Wahlen?
In Tumaco erwarten die Menschen von der neuen Regierung, dass sie die Friedensverträge ernstnimmt. Das beinhaltet natürlich auch eine gesellschaftliche Transformation. In Tumaco gibt es eine Arbeitslosigkeit von 70 Prozent, deswegen braucht es ernstzunehmende Arbeitsplätze mit sozialer Absicherung und einer Planungssicherheit für die Familien. Die Menschen erwarten endlich Investitionen in die Infrastruktur. Wir sprechen von einer Stadt mit über 100.000 Einwohnern, die nicht mal ein Abwassersystem hat. Wir brauchen ein solides, belastbares Gesundheits- und Bildungssystem. Meine Erfahrung ist, dass selbst viele Abiturientinnen und Abiturienten keine Chance bekommen, auf die Universität zu gehen und eine richtige Berufsausbildung zu machen.
In den letzten Jahren gab es Sozialproteste gegen die Regierung. Was ist daraus geworden?
Viele junge Menschen aus Tumaco haben sich in die Sozialproteste eingebracht, friedlich und mit sehr viel Engagement und kreativen Ideen. Für sie wäre es enorm wichtig, selbst zu erleben, dass ein Machtwechsel mit friedlichen Mitteln möglich ist - also mit der Abgabe der Stimme an der Wahlurne. Die Sozialproteste haben die junge Generation politisiert, sie will jetzt mitgestalten. Und sie wird jedem Präsidenten, wer immer auch gewinnt, genau auf die Finger schauen.
Pressemitteilung: Adveniat zur Präsidentschaftswahl in Kolumbien, 24. Mai 2022
Gewinnersong "Achtung vor dem Leben"
"Respeto a la Vida" - "Achtung vor dem Leben" heißt der Song, mit dem sich die HipHop-Gruppe Afro MiTu aus Tumaco beim Eine-Welt-Songcontest 2021 des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beworben hatte. Die Jugendlichen kamen unter die besten 20 und gewannen einen Berlin-Aufenthalt, um ihr Lied in einem Studio einzuspielen. Begleitet wurden sie von Adveniat-Projektpartnerin Ulrike Purrer, die seit mehr als zehn Jahren in Tumaco lebt und im Jugendkulturzentrum "Centro Afro" mitarbeitet. Dort haben die Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 26 Jahren ihr Musiktalent entdeckt.