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Interview: "Nicaragua ist in Angst verstummt"

Juan Carlos Arce ist Anwalt und Menschenrechtsexperte aus Matagalpa in Nicaragua. Im Dezember 2019 floh der 41-jährige Jurist ins Exil nach Costa Rica. Er berichtet, wie Präsident Ortega alle staatlichen Institutionen konsequent in den Dienst seines Machterhalts stellt. 

"Ortega und Murillo – Mörder“ steht auf diesem Plakat auf einer Demonstration gegen die Regierung am 28. Juli 2018 in Nicaraguas Hauptstadt Managua. Foto: Adveniat/Klaus Ehringfeld

"Ortega und Murillo – Mörder“ steht auf diesem Plakat auf einer Demonstration gegen die Regierung am 28. Juli 2018 in Nicaraguas Hauptstadt Managua. Foto: Adveniat/Klaus Ehringfeld

Herr Arce, was ist das Motiv Ihrer Reise nach Europa – rund einen Monat nach den Wahlen in Nicaragua?
 
In Nicaragua durchleben die Menschen die repressivste Phase seit drei Jahren. 2018 hatte Präsident Daniel Ortega die Proteste gegen die Regierung brutal unterdrücken und morden lassen. Heute lässt er die Gesellschaft minutiös überwachen – Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten, aber auch Geschäftsleute. Das ist in Europa längst nicht überall bekannt und deshalb bin ich hier: Ich will informieren über die Realität meines Landes.

Ein Beispiel: Offiziellen Zahlen zufolge haben dieses Jahr 95.000 Menschen Nicaragua verlassen. Sie sind geflohen vor der Diktatur. Diese Zahl steht für die Verzweiflung, für die Perspektivlosigkeit in meinem Land. 47.000 sind nach Costa Rica geflüchtet, wo auch ich im Exil lebe. Viele Tausende sind über Mexiko auf dem Weg in die USA. Das ist ein Exodus, den Nicaragua in diesem Ausmaß zuletzt im Bürgerkrieg erlebt hat.
 
Wie erfahren Sie und Ihr „Kollektiv Nicaragua Nie Wieder“, das für Menschenrechte und für faire Wahlen eintritt, von Verhaftungen und Repression?

Über Freunde, Bekannte, ein Netzwerk vor Ort. Allerdings werden Verhaftungen oft von den Familienangehörigen erst spät angezeigt, in der Hoffnung, dass ihre Verwandten wieder freigelassen werden. So vergehen manchmal zwei und oft auch mehr Wochen, bis wir von einer Verhaftung erfahren. Harry Chávez zum Beispiel, Ökonom und Ex-Mitarbeiter des Instituts für Demokratie und Entwicklung (Ipade) wurde am 6. November verhaftet. Doch die Familie wartete einen Monat, bis sie die Verhaftung meldete. 
 
Die Wahlen waren eine Zäsur. Die USA und die Europäer erklärten sie zur Farce eines Regimes, welches sich an der Macht halten will. Wie beurteilen Sie den Urnengang?
 
Wir nennen das ganze Stimmabgabe, nicht Wahl, denn es gab nichts zu wählen. Und in den Tagen nach der Stimmabgabe wurde uns nach und nach bewusst, dass ein weiteres Dutzend bekannter Oppositioneller verhaftet worden war. Die Repressionswelle hat dazu geführt, dass zivilgesellschaftliche Organisationen de facto demobilisiert sind – es traut sich niemand mehr den Kopf zu heben. Selbst Senioren von achtzig Jahren sind vor einer Verhaftung nicht gefeit – Nicaragua ist in Angst verstummt.
 
Welche Rolle spielen dabei die neuen Gesetze?
 
Eine entscheidende Rolle, denn fünf neue Gesetze sind hinzugekommen, die das Ziel haben, eine Gesellschaft zum Schweigen zu bringen, die – wenn sie dürfte - mehrheitlich gegen das Regime votieren würde. Das Gesetz, das sich gegen ausländische NGOs richtet, hat die Gesellschaft an der Gurgel gepackt, weil die Zivilgesellschaft keinen Cent mehr aus dem Ausland empfangen darf und ausgetrocknet wird. Diese Zivilgesellschaft, die einst zur Verteidigung der sandinistischen Revolution entstand, wird heute von einen halben Dutzend Gesetzen, wie dem oben genannten oder dem gegen Internetkriminalität, unterdrückt. Und auch das Gesetz gegen Hassreden lässt sich gegen die Opposition wenden. 
 
Wird auch die Justiz instrumentalisiert?
 
Mehr noch, der gesamte Staat ist ein Gefangener des Ortega-Clans und wird von ihm gegen seine Kritiker eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklagen, die absurd sind, aber verhandelt werden. Es wird generalisiert, Angst geschürt und unterdrückt. An der Spitze der Staatsanwaltschaft steht eine Ex-Polizistin – niemand, der Jura studiert hat. 
 
Gibt es die Chance auf einen Dialog – auf einen friedlichen Ausweg?
 
Daniel Ortega bereitet einen Dialog vor, allerdings mit denjenigen, die er auswählt. So wird der Dialog zum Monolog. Ein Beispiel: Zwei Vorsitzende der Cosep, des Unternehmerverbandes, sind verhaftet worden, um den dritten nach oben zu bringen, denn der ist ein Mann Ortegas. 
 
Haben Sie Informationen aus den Gefängnissen des Landes?
 
Ja, wir nehmen in Costa Rica immer wieder Flüchtlinge in Empfang, die uns Folterspuren zeigen, traumatisiert sind. Wir haben 116 Fälle dokumentiert, das Spektrum der Folter ist weit: Schlafentzug, Nahrungsentzug, Schläge, Demütigungen, psychische Folter, keine medizinische Hilfe. Wir wissen von Fällen, wo den Eltern Fotos ihrer Kinder vorgelegt wurden und ihnen angekündigt wurde, sie zu vergewaltigen. So erging es dem Anführer eines Bauernverbandes. Andere wurden mit dem Erstickungstod bedroht. Wieder andere konnten nach 85 Tagen das Gefängnis verlassen und hatten mehr als 25 Kilogramm Gewicht verloren. 

Kann Ortega denn einfach so weiterregieren? Wie funktioniert das?

Ortega wendet sich gerade China zu. Ob ihm das Ressourcen, politischen Rückhalt bringt, weiß ich nicht. Über Jahre kamen die Ressourcen aus Venezuela und vieles davon ist auf den Konten des Ortega-Clans gelandet. In diesen Jahren hat sich seine Partei, die FSLN, nicht nur in eine politische, sondern auch in eine ökonomische Maschine gewandelt. Die Kinder Ortegas stehen heute Fernsehanstalten und Unternehmen vor. Jetzt treffen die Sanktionen der USA und anderer Staaten diese Unternehmen – das ist positiv.

Interview: Knut Henkel

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